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Lützerath und klimapolitisches Dilemma-Management - als Gesellschaft müssen wir das aushalten

Lützerath - gebrochenes Sinnbild für einen Aufbruch
Lützerath - gebrochenes Sinnbild für einen Aufbruch

Die kriegsbedingte Energieknappheit droht den Kampf gegen die Klimakrise aussichtslos zu machen. „Schmutziges“ LNG-Erdgas hilft einstweilen aus der Energieklemme, doch die Braunkohle in Lützerath soll trotzdem abgebaggert werden. Grüne, an der Regierung in Nordrhein-Westfalen beteiligt, geraten immer stärker mit den Klimaaktivist:innen vor Ort in Konflikt. Aber wofür oder wogegen demonstrieren die eigentlich? Eine Gruppe erklärt: gegen die verfehlte Klimapolitik in Deutschland; eine andere befürchtet, dass durch das Abbaggern in Lützerath das 1,5°-Ziel endgültig gerissen wird. 

 

Dem widersprechen Einordnungen von Klimaexperten:innen, die betonen, dass in erster Linie der Emissionsdeckel der EU über das Erreichen der Klimaziele entscheide. Die Scientists For Future wiederum plädieren in einem offenen Brief für ein Moratorium in Lützerath und verweisen auf mehrere wissenschaftliche Gutachten, die das Abbaggern der Braunkohle als nicht notwendig einschätzen. Den Scientists for Future geht es jedoch zuallererst um die „gesellschaftlichen Kosten“ einer erzwungenen Räumung, also eher wieder um die Symbolik von Lützerath. 

 

Lützerath: ein Fanal für das Scheitern der Energiewende?

 

Viele Zwiespalte, viel Zerrissenheit, Ambivalenzen, Widersinnigkeiten Absurditäten und Aporien. Sind beim Klimawandel überhaupt noch Kompromisse möglich? Die knappe Zeit, die uns noch bleibt, um die Klimakatastrophe zu verhindern, darf uns nicht dazu verleiten, demokratische Verfahren außer Kraft zu setzen. Es gibt, auch aus klimastrategischer Perspektive, gute Argumente für das Abbaggern in Lützerath, beispielsweise weil dadurch fünf andere Dörfer gerettet werden konnten, in denen noch Menschen leben. Außerdem, so erklärt es Manfred Fischedick vom Wuppertal Institut, werde der Abraum von Lützerath gebraucht, um den benachbarten Tagebau in Garzweiler befüllen zu können. Es ist nachhaltiger, die dortige Abbruchkanten mit Abraum von vor Ort endgültig zu befestigen.  

 

Eine unsichere Energieversorgung angesichts des Ukrainekrieges mit explodierenden Preisen hat den Konflikt in Lützerath in den vergangenen Wochen eskalieren lassen. Dort wird jetzt erst einmal wieder Braunkohle gefördert. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom März 2021 festgestellt, dass unterlassener Klimaschutz eine Freiheitsbeschränkung darstellt, gegen die der Staat haftbar gemacht werden kann. Allerdings lässt sich aus dem „Klimaurteil“ nicht ableiten, wie die Politik die CO2-Ziele in konkretes Handeln umsetzt. (Insofern ist auch Volker Wissings klimapolitische No-Show als Verkehrsminister rechtlich gedeckt.)  

 

Wir werden die Lösungen gegen die Klimakrise nur in der politischen Arena entwickeln können. Dafür müssen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik robustere Kriterien der Zusammenarbeit entwickeln. Wir müssen an einer konfliktfähigen Demokratie arbeiten, die - durch Dissens und himmelschreiende Dilemmata hindurch - Lösungswege findet.

 

RWE: Dreckschleuder und zweitgrößter Windbauer

Und auch das gehört zu dem Szenario aus Tumulten, Turbulenzen und Zerrissenheiten. Auf den Energiekonzern RWE, dem das Gebiet in Lützerath gehört, entfallen laut einer Studie aus dem Jahr 2017 etwa 0,5 Prozent des weltweiten Treibhausgas-Ausstoßes der gesamten Industrie. Aber weltweit betreibt nur der dänische Rivale Ørsted mehr Windanlagen im Meer als die RWE. In den USA ist der Konzern mittlerweile der zweitgrößte Windanbieter. Und bis 2030 soll sich die Leistung der RWE-Windkraftwerke im Meer verdreifachen. Der Ausbau der Windkraft wird viele Stellen schaffen, den Abbau in der Braunkohle aber bei Weitem nicht kompensieren können. Robert Habeck zählt RWE-Boss Markus Krebber zu seinem engeren Beraterkreis.

 

RWE ist ein Unternehmen, das (jahrelang verkörpert in einem altindustriellen Schlotbaron wie Jürgen Großmann oder dem Ex-Sozialdemokraten und Kohle-Lobbyisten Wolfgang Clement) unserer zukunftsblinden Konsumgesellschaft die energetischen Drogen lieferte. Der Konzern hat dadurch Milliarden Euro an Subventionen und Profiten eingeheimst. Der Wandel, der jetzt vollzogen wird, verläuft, wenn nicht widerwillig, so doch sehr träge und hätte 20 Jahre früher eingeleitet werden können. Für das Windgeschäft wurde obendrein Katar mit ins Boot geholt, auch nicht der Lieblingspartner für den zukünftigen Geschäftserfolg.   

 

Natürlich muss die RWE auch nicht auf ihrem Recht zum Abbaggern in Lützerath bestehen; der Konzern trägt auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Der Konzern könnte immer noch zu dem Urteil kommen, dass die Kohle unter Lützerath gar nicht gebraucht wird für eine sichere Energieversorgung, wie es die wissenschaftlichen Expertisen ja nahelegen. RWE äußert sich momentan nur schriftlich. 

 

Für eine paneuropäische Energietransformation (und für eine grünere RWE) braucht es einen schnelleren Netzausbau (Supergrids).

 

Financial Greenwashing und Erdgas-Bonanza

 

Zur Vereinfachung der Debatte können wir einen Teilaspekt von vornherein ausblenden. Eine Renaissance der Kernenergie ist komplett sinnlos. Kernenergie ist eine veraltete, unbezahlbare und dysfunktionale Technologie. Kleinere Reaktoren, von denen immer wieder die Rede ist, sind bei weitem noch nicht betriebstauglich. Atomkraftwerke in Frankreich (Flammanville) lassen sich seit mehr als zehn Jahren nicht ans Netz bringen. Die Hälfte der mehr als 50 Anlagen dort funktioniert schlicht nicht. Überall reißen Schweißnähte auf; sollen sie repariert werden, müssen Experten aus den USA eingeflogen werden.

 

Noch absurder wird es, wenn wir den Blick über Lützerath hinauswagen. Der Tanz auf der Titanic geht weiter. Es herrscht Goldgräberstimmung und Bonanza bei den Erdgas- und Ölproduzenten. Die hohen Rohstoffpreise lassen Investitionen in neue Bohrfelder, in Pipelines oder Flüssigerdgas-Terminals seit Monaten in die Höhe schnellen. Von einem „Goldrausch“ sprechen die Experten vom Climate Action Tracker. „Wenn sich alle diese Pläne materialisieren", so formulierten sie in einer Studie, „dann enden sie entweder in massiven unnützen Investitionen - oder sie verdammen die Welt zu einer unumkehrbaren Erwärmung." Zu den Goldgräbern gehört auch ein Mineralölkonzern wie die französische Totalenergies (früher Total). Totalenergies ist der siebtgrößte Produzent und Verarbeiter von Öl und Erdgas. Eine Recherche von FE Fundinfo vom September des vergangenen Jahres belegte, dass Totalenergies und andere fossile Großunternehmen nach wie vor in europäischen Artikel-9-Top-Ökofonds gelistet werden. Dreistes Greenwashing auf dem Finanzsektor; mehr als 1.500 Top-Ökofonds droht die Auslistung.

 

Die 5 Lehren aus Lützerath 

 

1. Lützerath: Ungeschminktes Sinnbild für den Aufbruch: Lützerath ist nicht Mordor (das dunkle Reich aus J.R.R. Tolkiens Fantasy-Romanen), wie es Greta Thunberg am Samstag vor Ort nannte. Das geschundene Gelände sollte sich als ein Symbol für die jahrzehntelange besinnungslose Politik einer verantwortungslosen Konsumgesellschaft in unser kulturelles Gedächtnis einprägen. Lützerath könnte so zu einem ungeschminkten, gebrochenen Sinnbild für den Aufbruch in eine neue Energie-Ära werden.

 

2. Wem nutzt der Protest: An Lützerath wird die globale Klimapolitik nicht zerschellen. Doch es besteht die Gefahr, dass das Dilemma-Management von Habeck und den Grünen die junge Generation abstößt. Der militante Protest um Lützerath ist nachvollziehbar, dennoch könnte er sich für den Aufbau einer breiten Klimabewegung als kontraproduktiv herausstellen, da er bislang in der Bevölkerung wenig Akzeptanz findet.

 

3. Ambivalenzen aushalten: Die Angst, von einer Energiekrise in eine Staatskrise überzugehen, ist unbegründet. Doch offensichtlich ist die Energiewende kein Masterplan, der sich unter Laborbedingungen abarbeiten lässt. Fundamentale Krisen wie der russische Einmarsch in die Ukraine, eine gerade überstandene Pandemie und der sich beschleunigende Klimawandel zeigen, dass wir nur über politische Lösungen weiterkommen. Wir sollten an einer „rebellierenden Demokratie“ (Miguel Abensour) arbeiten, wie sie in Lützerath (und bei vielen anderen Anlässen) in Ansätzen stattfindet. Diese rebellierende Demokratie akzeptiert – im Gegensatz zu populistischen Querfronten – unsere dilemmatische Realität des Jahres 2023. Sie kontrolliert, bewertet kritisch und fordert Staat und Wirtschaft heraus – dafür jedoch braucht es noch eine deutlich breitere zivilgesellschaftliche Aufmerksamkeit für die Megatrends Energiewende und Klimawandel.  

 

4. CO2-Preis und globale Klimapolitik sind die wichtigsten Stellschrauben: Wir sollten schnellstens den Blick auf die globale Lage richten. Auch da lauern Fallstricke, Ambivalenzen und Paradoxien. Schauen wir nur nach China: Die Installation regenerativer Technologien alleine reduziert die Emissionen nicht, wenn nicht gleichzeitig der Abschied von den fossilen stattfindet. China ist der größte Markt für erneuerbare Energien, keine Frage, dennoch steigen dort die Treibhausgas-Emissionen unvermindert an, weil China wieder vermehrt Kohle einsetzt (und Kohletechnologie nach Afrika exportiert). Auch hier gilt: Wir müssen das Alte aus dem Markt drängen, und das geht nur über einen CO₂-Preis. Der EU ist dabei kurz vor Weihnachten ein wichtiger Durchbruch gelungen; China und die USA sollten sich dem schnell anschließen.

 

5. Wir stehen vor einem grundlegenden Normenwandel: Die Forderungen der „Letzten Generation“ und „Fridays For Future“ appellieren in der Regel an die politische Rationalität. Das ist gut so. Sie gängeln den einzelnen nicht mit der „Individualisierung der Klimaschuld“ (CO2-Fußabdruck), sondern fordern Maßnahmen im politischen Raum. Über angemessene Aktionsformen sollte kritisch nachgedacht werden. Mit der Klimabewegung erleben wir gerade einen einschneidenden Normenwandel in unserer Gesellschaft. Solche Veränderungen werfen neue Fragen auf und erzeugen Polarisierungen und Radikalisierungen. Von führenden Christdemokraten wie Alexander Dobrindt („Klima-RAF“) und dem CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz („Terror beginnt mit Gewalt gegen Sachen“) wurden die Protestierenden als Terroristen verunglimpft. Dabei sind sie Akteure eines Wandels, der darauf hindeutet, dass grundlegende Veränderungen in unserer Gesellschaft unaufschiebbar sind. Als Triebkräfte des Wandels erzeugen die Protestierenden in erster Linie Irritation und Genervtsein. Viel bedenklicher ist, dass der Konflikt zwischen der „Letzten Generation“ und der (hoffentlich) letzten Generation eines gutsherrlichen Politikstils dem Playbook rechtsradikaler Provokationen anlässlich der Gender- und Me-Too-Debatte folgte. Den gesellschaftlichen Wandel wird das nicht aufhalten (und reaktionäre Strategien helfen bekanntlich nur den Rechtsradikalen). Es muss sich zeigen, wie aus dieser Situation ein progressiver Normenwandel entwickelt werden kann.