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Ist unsere Gesellschaft von Selbstoptimierung besessen. Und wenn ja, was ist so schlimm daran?

 

Das eigene Selbst als Baustelle und Projekt - der Trend zur Selbstoptimierung setzt sich immer mehr durch. Permanentes Datenmonitoring verknüpft sich mit hohen Erwartungen an Selbstakzeptanz und -wirksamkeit. Einfach einzuordnen ist das Phänomen nicht: weder ist es nur eine neoliberale Körperideologie, noch ist es esoterisches Simsalabim. Der spätmoderne Mensch kombiniert gerne (scheinbar) Unvereinbares

 

Jeder von uns benutzt Schrittzähler, Smart Watches und andere digitale Helferlein beim Sport und in der Freizeit. Das muss man nicht gleich als Biohacking bezeichnen ("Brigitte": weniger "aber" sagen und kalt duschen). Doch das Bedürfnis, Körper, Geist und Seele systematisch zu optimieren, ist allgegenwärtig.

 

Wir definieren uns als eine Gesellschaft der Ichlinge, der „Economist“ sprach in den 2000er Jahren von der „I-Decade“, dem Zeitalter der Ichbezogenheit. Im Mai 2022 hat der „Economist“ den Begriff des „Quantified Self“ ins Spiel gebracht. Spätestens da wird der Hype um die Selbstoptimierung zu einer schillernden Kategorie, die viel über unser Leben im 21. Jahrhundert und über unseren Umgang mit Megatrends wie Digitalisierung, Individualisierung und Gesundheit aussagt.

 

Selbstoptimierer haben sich in der Konsumkultur des 21. Jahrhundert selbst zum Projekt erklärt. Über die intensive Arbeit am eigenen Ego versuchen die Selbstoptimierer die Lebensqualität möglichst permanent zu steigern. Experten sprechen auch von dem Hang zu einer „somatischen Individualität“ in unserer Gesellschaft, wobei zum Projektportfolio der Selbstoptimierer selbstredend auch die Optimierung der eigenen Work-Life-Balance und die Erweiterung der geistigen und spirituellen Erfahrungswelt gehört. Selbstoptimierung ist auch deshalb ein einflussreicher Gesellschaftstrend, weil sich das stete Bemühen um Selbstoptimierung an die Nutzung von Vernetzungstechnologien bindet und die innige Arbeit am Selbst in den Socialmedia-Kanälen ausführlich zelebriert wird. Die Projektlogik der Selbstoptimierer macht sie dessen ungeachtet jedoch auch anschlussfähig für so etwas wie das romantische Persönlichkeitsideal eines allseitig interessierten, empfindsamen Individuums

 

Währenddessen zerfallen die westlichen Gesellschaften, das ist seit einigen Jahren zu beobachten, was den Umgang des einzelnen mit sich selbst angeht, in zwei krass polarisierte Lager: die in der Regel sehr gut ausgebildeten und besserverdienenden Gesundheitsanbeter auf der einen Seite und die prekarisierten Powerkonsumenten, die ihren Wohlbefinden und einen relativen Wohlstand unter anderem über den Konsum von hochkalorischer Ernährung organisieren. Bei Letzteren hat das zu bizarren bis bedenklichen Gesundheitsdaten geführt, demzufolge es mittlerweile weltweit mehr Tote durch Falschernährung zu beklagen haben als durch Unterernährung. Gesundheit wird in den westlichen Ländern längst wieder „vererbt“, will sagen, wer im unteren Viertel der Gesellschaft lebt, wird signifikant häufiger krank und stirbt früher.  

 

Im Jahr 2020 waren mehr als 2,1 Milliarden Menschen übergewichtig, das macht rund ein Drittel der Weltbevölkerung aus. 768 Millionen Menschen litten an Unterernährung. Im Jahr 2017 starben laut The Lancet weltweit elf Millionen Menschen an ungesunder Ernährung. Und laut WHO sterben jährlich nicht weniger als 2,8 Millionen Menschen an Fettleibigkeit

 

In den USA hat das reichste Prozent aller Bürger eine bis zu zwölf Jahre höhere Lebenserwartung als das ärmste Prozent. In Deutschland haben arme Menschen eine acht bis zehn Jahre geringere Lebenserwartung als wohlhabende. Überall auf der Welt, auch in reichen Staaten gilt die Regel: Wer arm ist, wird eher krank und stirbt früher (Für Deutschland lohnt es sich, hierzu die Untersuchungen des Robert-Koch-Instituts („Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit“) zur Kenntnis zu nehmen.

 

Trotz vieler Gesundheitsinitiativen und der Transformation von Gesundheitserleben zum konsumierbaren Lifestyle-Accessoire (auf Kosten der Daseinsvorsorge für die breit Bevölkerung) hat sich diese Spaltung unserer Gesellschaft, die entlang der Wirtshaustische, Nagelstudios und Fitnessstudios verläuft, nicht aufheben lassen. 

 

Ist Selbstoptimierung womöglich doch nur der Lifestyle der Besserverdienenden (und die in die Freizeit verlängerte Hochleistungsgesellschaft)? Mit den Selbstoptimierern, der Eindruck drängt sich bei vielen auf, ist der Neoliberalismus bis in die Eingeweide und die Zellen unseres Körpers vorgedrungen. Denn Selbstoptimierung tendiert in vielen seiner Ausprägungen Richtung Arbeit, Anstrengung und Versagung. Selbstoptimierung ist ein intrasubjektiver Wettbewerb auf dem eitlen Markt der Ich-Ideale in einer zum Narzissmus tendierenden Gesellschaft. 

 

Die Berliner Soziologin Anja Röcke stellt diese vorschnelle Zuordnung in Frage. Selbstoptimierung würde nicht umfassend verstanden, wenn hinter dem Trend umgehend die Installierung eines neoliberalen Hochleistungs-Ich verstanden würde, wie es vor allem Jim McGuigan in „The Neoliberal Self“ (Culture Unbound, 6/1 2014 definiert. McGuigan definiert Selbstoptimierung reduziert über 1.) ausgeprägte Konsumorientierung, 2.) ein irgendwie unternehmerisches Mindset und 3.) über einen politischen Individualismus, der sich grundsätzlich gegen die klassischen Formen wohlfahrtstaatlicher Daseinsvorsorge richtet.   

 

Doch Selbstoptimierung ist ein weitaus komplexeres Phänomen. Häufig stehen bei den Selbstoptimierern eine oder mehrere der folgenden „Kulturtechniken“ im Zentrum des Ego-Projekts: Ratgeberorientierung, Konsum leistungssteigernder Substanzen, plastische Chirurgie, Techniken der Selbstvermessung mit angeschlossener Vernetzung in Socialmedia-Plattformen. Darüber hinaus ist der Trend zur Selbstoptimierung – wie viele andere Trendphänomene unserer Zeit auch – stark von auf den ersten Blick sich widersprechenden Verknüpfungen gekennzeichnet. Anja Röcke zeigt sehr gut, dass bei den Selbstoptimierern das Bedürfnis nach neuen Formen der Selbsterfahrung einhergeht mit der Zustimmung zu technischen Verfahren der Rationalisierung und Ökonomisierung der eigenen Bedürfnisse. Das Bedürfnis nach Selbststeigerung (Marathontraining in 14 Tagen) wird von Selbstoptimierern durchaus kombiniert mit der Tugend der Selbstbegrenzung („Simplify...“), instrumenteller Selbstbezug und Ekstase, Sucht nach Gratifikation bei gleichzeitiger Leidensfähigkeit, Erfahrungshunger und Bekenntnisse zu Resilienz und Nachhaltigkeit...der Selbstoptimierer ist ein Kind seiner Zeit und brilliert in der Fähigkeit der Ambivalenztoleranz. (vgl. Röcke, S. 228-229). 

 

Selbstoptimierung verspricht Selbstakzeptanz durch Selbstkontrolle.

Und für das Verständnis dieser Trendentwicklung mittlerweile ebenso wichtig: Selbstoptimierung in der digitalen Gesellschaft koppelt sich unverlierbar an Daten und Algorithmen, die entscheidenden Produktivkräfte der kommenden Jahre. 

 

Die Nutzung von Daten ist seit einiger Zeit schon der größte Markt der Welt und stellt damit den Kapitalismus auf den Kopf, denn die personenbezogenen Daten können nicht von ihren Erzeugern genutzt werden. Laut einer aktuellen Berechnung brachte die Abschöpfung von personenbezogenen Daten im Jahr 2019 rund 76 Milliarden US-Dollar Umsatz. Und wie wir alle wissen, macht die Nutzung personenbezogener Daten erst das Geschäftsmodell von Google und Facebook möglich. Addiert man den Marktwert von Google und Facebook (und zieht kleinere Posten ab), kommt man auf 1,4 Trillionen US-Dollar durch die Nutzung von (Fremd-)Daten.

 

Somit prägt auch der Megatrend der Digitalisierung immer stärker die Lebenswelt der Selbstoptimierer. In dem Maße, wie wir immer mehr Daten über uns selbst erzeugen, müssen wir auch immer mehr entscheiden, was zu einem veritablen Stressfaktor werden kann (Neurosen aufgrund permanenter Selbstbeobachtung nicht ausgeschlossen). Habe ich alles im Griff - oder vielleicht gar nichts mehr? Selbstoptimierung am Ende als Gesundheitsfalle, Selbstoptimierung als toxischer kultureller Konformitätszwang? Es entstehen auf jeden Fall Gewissensnöte: In einer Gesellschaft, die sich aufgemacht hat, „den Tod abzuschaffen“ (Google, Peter Thiel et. al.), erscheint Krankheit schnell als individuelles Versagen und Nicht-Können.

 

Machen wir zum Schluss noch eine Probe aufs Exempel. In welchem Verhältnis steht eigentlich Genuss zur Selbstoptimierung? Es gibt nichts Sozialeres als eine gemeinsame Mahlzeit. Und kulinarische Genüsse oder auch nur ein gutes Gespräch, ein gelungener Abend, sind kulturbildend und führen in gleichem Maße zu Selbst- und Fremdakzeptanz. Von hier aus rückt der trendende Lebensstil der Selbstoptimierer noch einmal in ein ganz anderes Licht.