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Wie die Erdöl-Lobby konkurrierende Technologien verdrängt, Putins epochaler Rohstoffraub und die Wärmewende

 

• Eine Ideologie wie die neoliberale Marktgläubigkeit funktioniert wie Fake News: sie suggeriert einfache Lösungen und Alternativlosigkeit

• Dabei gibt es keine alternativlosen Technologien. Die Erdöllobby hat die Alternativlosigkeit der fossilen Energieträger seit den 1960er Jahren durchgesetzt 

• Erdwärme und Wärmepumpen waren bereits zu Beginn des Jahrtausends komplett einsatzfähig, wurden von der fossilen Lobby verdrängt und treten jetzt ihren verspäteten Siegeszug an 

 

Was vorher geschah... Märkte sollen nur noch von der ruhigen Hand der Politik (und den Interessen multinationaler Konzerne) geführt werden; freundschaftliche Beziehungen mit Russland sind ein Teil der bundesdeutschen Identität seit den 1970er Jahren; dem Handel mit Russland ist eine Friedensdividende inhärent und er verwandelt im 21. Jahrhundert politische Spannungen in polit-ökonomische Win-Win-Situationen; billiges Erdgas aus Russland ist die unverzichtbare Schlüsselressourcen für die deutsche Exportindustrie und die Wohlstandswohnbehaglichkeit der Bürger; volle Auftragsbücher und zufriedene Bürger sind wiederum das politische Kapital für den Machterhalt. Innerhalb dieses ebenso biedermeierlichen wie explosiven Bedingungsgefüges gab sich Deutschland über Jahrzehnte der verhängnisvollen Energieabhängigkeit von Vladimir Putin hin.

 

Für unseren zukünftigen Umgang mit Technologien, Märkten und Innovationen hält das eine bittere Lektion bereit: Höchste Vorsicht ist dann geboten, wenn regierungs- und unternehmensseitig von alternativlosem Handeln und alternativlosen Technologien die Rede ist. Dann sollten alle Frühwarnsysteme im rötesten Rot aufleuchten, denn dann ist Ideologie am Werk und festgezimmerte Weltbilder werden gezimmert. 

 

Die Wohlstandsgesellschaft schlafwandelt in die Energieabhängigkeit... Wie konnten wir uns nur so von Putin hereinlegen lassen? Die 2000er Jahre waren eine Hochphase der neoliberalen Marktgläubigkeit. Gerhard Schröder und Tony Blair hatten sich gerade im Schröder-Blair-Papier auf die turbokapitalistische Modernisierung der Sozialdemokratie eingeschworen, welche darin bestand, den Einfluss des Staates auf Märkte und Unternehmen zu minimieren. Das Dealmaking mit dem Diktator (das Angela Merkel bruchlos fortsetzte) konnten sich Sozialdemokraten damals als längst überfälligen Modernisierungsvorstoß und gleichzeitige Verbundenheit zur eigenen Identität (Ostverträge) schöntrinken. Sozialdemokraten lassen sich gerne auf dem Zwiespalt zwischen Modernität und Tradition manipulieren. Überhaupt stand das „Ende der Geschichte“ (und der Ideologien) ja schon länger fest und der Markt würde jetzt regeln, wo früher das politisches Kleinklein nervte. Leider ein folgenschwerer Irrtum. Sozialdemokratischer Marktradikalismus hat sich spätestens seit dem 24. Februar 2022 als verhängnisvolle Naivität erwiesen. Und Putin entpuppte sich als eiskalter Ausbeuter des russischen Rohstoffreichtums, den er gemeinsam mit dem russischen Geheimdienst und der Mafia für den Zweck der verbrecherischen Selbstbereicherung instrumentalisierte. Wie SPD-Ministerien bis in die unmittelbare Gegenwart hinein das Nordstream-2-Projekt - trotz Sicherheitsbedenken für Europa und trotz Unverständnis aus Polen und dem Baltikum - durchpeitschten, kann man hier detailiert nachlesen.

 

Putins Russland – „gefakte“ Marktwirtschaft... Greller könnten Netflix-Dramaturgen das Versagen westlicher Marktgläubigkeit nicht inszenieren: Wie der egomane Schurke aus dem Kreml sentimentale Russophilie dazu benutzt, zu einem der reichsten Menschen der Welt zu werden und mit den Energie-Milliarden des Westens seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine finanziert. Am Ende ihrer 600-seitigen Untersuchung zu „Putins Netzwerk“ schreibt Catherine Belton: „Die Schwäche des westlichen Kapitalismus, in dem Geld letztendlich alle Bedenken überwog, hat das System weit für die Manipulationen des Kreml geöffnet. In Russland hatte die bereitwillige Komplizenschaft des Westens geholfen, die KGB-Simulation einer normalen Marktwirtschaft zu erschaffen. Mächtige Institutionen und der Markt, die unabhängig sein sollten, waren in Wahrheit nur Tarnorganisationen des Kreml.“ (Belton, 598) Belton, die für die „Financial Times“ in Russland als Investigativreporterin arbeitete, gesteht in einem Interview mit der „Zeit“ ihre Fassungslosigkeit angesichts der Naivität des Westens: „Als ich zum ersten Mal hörte, dass ehemalige Stasi-Funktionäre führende Ämter bei den Gazprom-Ablegern in Deutschland bekleiden, hat mich das auch ziemlich fassungslos gemacht. Vielleicht hat man im Westen geglaubt, diese alten Netzwerke seien mit dem Untergang der Sowjetunion bedeutungslos geworden. (...) Vielleicht zeugt es auch von einer gewissen Arroganz und Selbstgefälligkeit des Westens, anzunehmen, Russland würde sich nach dem Zerfall der Sowjetunion auf die Rolle eines Handelspartners reduzieren und sich eine Integration in das westliche System vorschreiben lassen.“

 

Wie die fossile Energy-Lobby ihr Weltbild durchsetzte... Und bis heute kann sich Putin bei seinem epochalen Raub des russischen Rohstoffreichtums auf die internationale Erdöl- und Erdgaslobby des Westens verlassen. Auf der Erzeugung von klimaskeptischen Fake News und Halbwahrheiten spezialisierte Spindoctors im Dienst der fossilen Industrie haben seit den 1960er Jahren ein eigenes Weltbild entworfen. Die zentrale Botschaft: Für Erdöl und Erdgas gibt es schlechterdings keine Alternativen. Das muss man erst einmal hinkriegen. Doch speziell die amerikanischen Erdölindustrie hat damit seit den 1960er Jahren Erfahrung und investierte seitdem Milliarden US-Dollar in Fake-News-Kampagnen und die Normalisierung des fossilen Weltbildes.

 

Solche Kampagnen funktionieren als sehr wirksame ideologische Entwirklichungs-Apparate. Wir bezeichnen solche Vorgänge der ideologischen Wirklichkeits(de-)konstruktion deshalb als „Apparate“, um darauf hinzuweisen, dass in ihren Prozessen interessegerichtete Strategien eine Rolle spielen, Netzwerke zwischen Wirtschaft und Politik beeinflusst, PR-Kampagnen gestartet und Entscheidungsträger korrumpiert werden. Gegenüber einer Zukunftstechnologie wie beispielsweise der Geothermie werden finanzielle, technologische und gerne auch ökologische Bedenken unter dem Deckmantel der Seriosität aus Unternehmenszentralen der Mineralölgiganten und Lobbyisten-Gruppen emittiert. In der Vergangenheit reichten bereits beiläufig gestreute Zweifel (zu teuer, zu viele Subventionen), bewusst gesetzte argumentative Unschärfen (ganz so ungefährlich kann das nicht sein) und der populistische Verweis auf hohe Entwicklungskosten, um zu suggerieren, man sollte doch besser bei den Fossilen bleiben. 

 

Möglicherweise erklärt das auch seltsam vorsichtige Prognosen selbst von renommierten Institutionen. Für die Solarenergie veröffentlicht die IEA, die Internationale Energieagentur, in ihrem „World Energy Outlook“ jedes Jahr einen Ausblick für die wichtigsten Energieträger. Bis vor kurzem wurden dabei für Solar absurd bescheidene Aussichten prognostiziert. Bis zur Veröffentlichung einer Graphik, die die Prognoseirrtümer dokumentiert. Seit 2020 geht die IEA nun endlich auch von einem exponentialen Wachstum der Solarenergie aus – was seit Jahren bereits der Fall ist. Wie kommt es zu diesen Zahlen? Es ist jedenfalls offensichtlich, dass Lobbyverbände der fossilen Energien ein Interesse daran haben, den Solarboom auszubremsen.

 

Für das Zukunftsprojekt der nachhaltigen Energiewende, das möchte ich damit sagen, dürfen wir uns nicht mehr von solchen alternativlosen Weltbildern an der Nase herumführen lassen. 

 

Erdwärme – bislang von der Energielobby erfolgreich verdrängt... Wir reden jetzt – endlich! – über das disruptive Potenzial von Wärmepumpen. Durch den „Inflation Reduction Act“ der US-Regierung steht sogar im Raum, dass die Biden-Administration große Mengen an Wärmepumpen in Europa aufkauft, um die Preise zu drücken und den Markt in den USA anzukurbeln. Der Blick auf die wachstumstrunkenen 2000er Jahre enthüllt, dass die Geothermie schon einmal um das Jahr 2005 herum, als die Energiepreise in die Höhe schossen, vor dem Durchbruch stand. Damals geriet die fertig entwickelte, regenerative Technologie irgendwann wieder in Vergessenheit. Wir können davon ausgehen, dass auch die Geothermie seit Jahrzehnten von den Desinformations-Kartellen der fossilen Industrien aus politischen Entscheidungsprozessen herausgehalten und für dysfunktional erklärt wird. Das muss man erst einmal hinkriegen, mitunter vollständig entwickelte Technologien wie die Geothermie aus dem Blick der Öffentlichkeit zu entfernen und für dysfunktional zu erklären, wobei das Gegenteil der Fall ist. 

 

Aktuelle Berechnungen belegen das nachdrücklich. Bis 2045 könnte Erdwärme in Deutschland drei Viertel des jährlichen Heizenergiebedarfs decken, zu dem Schluss kommt eine Studie der Fraunhofer-Gesellschaft in Kooperation mit der Helmholtz-Gemeinschaft. Da drängt sich die Frage auf: Warum werden solche Studien nicht stärker in den öffentlichen Fokus gestellt? Warum geschah das nicht schon viel früher? Angesichts unserer verzweifelten Lage zwischen Ukrainekrieg und sich beschleunigendem Klimawandel findet Geothermie jetzt plötzlich auch in der Berichterstattung eines seriösen Mediums wie dem „Handelsblatt“ und anderen statt. 

 

Nebenbei bemerkt: Auf der Erde beziehungsweise im Erdinneren gibt es (bedingt durch die Erstarrung der während ihrer Entstehung glutflüssigen Erde) mehr als genügend Energie. Im Erdinneren befinden nahezu unendliche und dazu noch regenerative Bestände an Wärmeenergie, die problemlos zur Klimatisierung (warm und kalt) unserer Innenräume wie auch zur Stromerzeugung genutzt werden könnten. Schaut man sich jedoch Medienberichte in den vergangenen Jahrzehnten zur Geothermie an, bekommt man den Eindruck, in der Geothermie werde mit zweifelhaften und zerstörerischen Methoden Raubbau an Mutter Natur betrieben. Schnell wird da von einer nicht absehbaren Erdbebengefahr gesprochen, die durch geothermische Erdbohrungen ins Haus stünden. Die Forschung hat das längst widerlegt. 

 

Geothermie ist grundlastfähig, garantiert stabile Preise und ist damit ein sicheres Investment. Die hohen Upfront-Kosten der Geothermie, besonders wenn Bohrungen zu „Nicht-Fündigkeit“ führen, sollten kein Hemmnis sein, da Erdwärme den gesamten deutschen Erdgasbedarf komplett zu ersetzen vermag. Jetzt, da in einem barbarischen Angriffskrieg in der Ukraine Tausende von Menschen sterben und Putin mit Gaslieferungen die EU zu spalten versucht, entdecken auch Westeuropas Ölmultis, dass die Geothermie in höchstem Maße zukunftsfähig und selbst die eigene Branche aus dem Stranded-Assets-Dilemma und aus der Ära des fossilen Zeitalters herausführen könnte. Der Bundesverband Erdgas, Erdöl und Geoenergie (BVEG) erkennt mit einem Mal, dass beispielsweise die Nachnutzung vorhandener Bohrungen und aus dem fossilen Geschäft bereits vorhandene geologische Daten genutzt werden können. 

 

Jede Technologie birgt Chancen und Risiken – keine Technologie ist alternativlos... Dabei ist klar: jede Technologie birgt Chancen und Risiken und hat Reichweitendefizite, was Preis, Reichweite und sinnvolle Nutzbarkeit angeht. Ideologische Apparate funktionieren, indem sie uns eine Version der Wirklichkeit als alternativlose Wahrheit (meistens eine einfache und preiswerte) verkaufen. Ideologie – das ist Brandgefährliche daran – verwandelt durch ihre Wahrheitsbehauptung kausale Zusammenhänge in quasi unbezweifelbare Naturzustände. 

 

Was ist wichtig bei der Einführung von neuen, möglicherweise überlegenen und marktverändernden Technologien? Sie müssen eine bestimmte Marktgängigkeit erreichen, ab der ihre Produktivität tatsächlich eingeschätzt werden kann. Laut Michael Liebreich, Gründer von Bloomberg New Energy Finance (BNEF), erreichen die Erneuerbaren früh in den 20er-Jahren einen Tipping Point: Das erste Prozent am Weltmarkt dauert ewig, so Liebreich, fünf Prozent Marktanteil sind wie das Warten auf einen Nieser – unausweichlich, aber es dauert (in dieser Phase befanden sich die Erneuerbaren in den 2010er-Jahren). Die Phase zwischen fünf und fünfzig Prozent geht dann rasend schnell. 

 

In der hiesigen Heizungsbranche ist längst angekommen, dass es sich bei Erdwärme und erdreichgekoppelten Wärmepumpen um einen vielversprechenden Zukunftsmarkt handelt. Anfang 2022 gab Stiebel Eltron bekannt, am Hauptsitz etwa 120 Millionen Euro in eine neue Wärmepumpen-Fertigung investieren zu wollen, um bis 2026 doppelt so viele Wärmepumpen produzieren zu können. Durch den Kapazitätsausbau werden gleichzeitig rund 400 neue Arbeitsplätze entstehen. Der Heizungsbauer Vaillant hat 2021 rund 300 Millionen Euro in Wärmepumpen, Forschung und Entwicklung und Digitalisierung investiert. In den kommenden fünf Jahren sollen die Investitionen jeweils über diesem Niveau liegen. Last, but not least nimmt der sauerländische Heizungsbauer Viessmann sogar eine Milliarde Euro in die Hand, um in den nächsten drei Jahren den Ausbau von Produktionskapazitäten, Forschung und Entwicklung sowie Erweiterung grüner Klimalösungen mit Fokus auf Wärmepumpen voranzutreiben. – 

 

Der skandalöse Vorgang der Installation von fossilen Energieträgern als alternativloser Technologiepfad durch Nord Stream 1 und 2 ist ein solcher Vorgang der faktenwidrigen Ideologieproduktion. Putins zu „Aktionspreisen“ angebotenes Erdgas bescherte den deutschen Endverbrauchern warme Wohnstuben und der Industrie sagenhaft günstige Produktionsbedingungen für eine brummende Exportwirtschaft.  

 

Wollen wir die Dekarbonisierung unserer Gesellschaft voranbringen, dürfen wir uns nicht mehr von Ideologien (links, rechts, klimaskeptisch, neoliberal) ausbremsen lassen.