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Twitter: Elon Musk und die Zukunft der digitalen Gesellschaft

Quelle: Shutterstock
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Nach eigenen Aussagen hat Elon Musk inzwischen den Kauf von Twitter „auf Eis gelegt“, was juristisch jedoch nicht haltbar ist. Musk hat den Kaufvertrag für Twitter unterzeichnet, er wird Twitter kaufen.

 

Man möchte das alles als Kasperletheater eines erratischen Universalgenies abtun. Doch mit der offenen Zukunft eines enorm einflussreichen sozialen Mediums wie Twitter stellt sich auch die Frage nach der Zukunft unserer politischen Öffentlichkeit.

 

Als globale Storytelling-Maschine ist Twitter unwiderstehlich. Auf Zukunftsbranchen wie Technologie, Politik, Finance, Entertainment, Medien hat Twitter enormen Einfluss: Wer dort wahrgenommen werden will, muss auf Twitter präsent sein.

 

Ganz nebenbei ist Twitter dabei zu dem Elite-Kommunikationsnetzwerk Nummer eins avanciert. Noch nie hatte ein Medium so viel narrative Power. Twitter ist Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert beziehungsweise die – lange Zeit – unbeaufsichtigte Disruption von Öffentlichkeit, wie wir sie kennen.

 

Wo sonst (in Davos etwa?) trifft man so viele Entscheider, wo sonst verdichtet sich so viel gesellschaftliche und ökonomische Macht? Auf Twitter reden alle, die etwas zu sagen haben – Eliten-Aufmerksamkeit mit maximal niedriger Zugangsschwelle.

 

Wir stehen vor der nächsten großen digitalen Zäsur. Facebook, Microsoft und mittlerweile auch Apple träumen vom begehbaren Internet im Metaverse.

 

Und jüngst hat die „New York Times“ ihre Reporter aufgefordert, sich wieder mehr mit der Realität als mit ihrem von Twitter gespiegelten und eskalierten Abbild zu beschäftigen. Social Media als schmuddeliges Zwischenspiel der Mediengeschichte?

 

Bricht eine neue Twitter-Ära an?

 

Es sind die folgenden Fragen, die gerade durch den digitalen Raum geistern: Wird Twitter demnächst das erste soziale Medium der Kryptoära sein? Wird durch die Dezentralisierung der Plattformen ein neues Konzept von Meinungsfreiheit umsetzbar?

 

Immer wieder wird vermutet, Twitter könnte komplett auf eine Blockchain gestellt, mit einer eigenen Kryptowährung und fälschungssicheren Nutzeridentitäten ausgestattet werden. Geht damit bereits die Ära der Plattformen, die Wertschöpfung durch Aufmerksamkeit generieren und das umstrittene Geschäftsmodell der 2010er-Jahre lieferten, zu Ende, oder stehen wir erst am Anfang des Plattform-Zeitalters?

 

Seit mehr als zehn Jahren findet das Weltgeschehen in aller Breite auf Twitter statt, wird durch CEO- und Präsidenten-Tweets medial initiiert und zur weiteren Eskalation in die klassischen Medien (CNN vs. Fox News) eingespeist. Doch bis zum heutigen Tag ist es Twitter nie gelungen, daraus wirklich Kapital zu schlagen.

 

Facebook war damit erfolgreich, dass es den Werbetreibenden zeigen konnte, wen wir alles kennen. Twitter geht weit darüber hinaus, denn das Netzwerk erteilt Auskunft darüber, was wir mögen und was uns aufregt.

 

Das scheint jedoch nichts daran zu ändern, dass sich nach wie vor relativ wenig Menschen auf Twitter aufhalten. Weltweit liegt Twitter mit 436.000 Nutzern (Stand: Januar 2022) mittlerweile nur noch auf dem 15. Platz hinter TikTok, Telegram, Snapchat und vielen anderen; Facebook bleibt mit 2,91 Milliarden die unangefochtene Nummer eins.

 

Twitter hat von Anfang an der durch den Börsengang auferlegte Wachstumszwang nicht gutgetan. Die Börsennotierung hat Social Media zu dem umstrittenen Targeting-System geführt, gegen das die Regulierer in Europa und den USA Sturm laufen. Dieses Geschäftsmodell kann Musk nicht glücklich machen, es besteht nach wie vor – wie bei Google und Facebook auch – zu über 90 Prozent aus Werbeeinkünften.

 

Twitter: das erste soziale Medium des Kryptozeitalters?

 

Quasi als Parallelaktion zu Musks Kaufgelüsten wabert seit einigen Wochen die Diskussion zum Web3 durch die Tweets und Technologie-Blogs. Erleben wir gerade den Beginn einer neuen Ära des dezentralen Internets?

 

Vieles davon wiederholt das Emanzipationsnarrativ vom Beginn des Internetzeitalters Mitte der 1990er-Jahre. Ob das Web3 nur einen PR-Stunt von Starinvestoren wie Andreessen Horowitz und der Kryptoszene oder doch den Durchbruch in die neue Internetfreiheit markiert, kann jetzt noch nicht entschieden werden.

 

Dafür stellen Kryptowährung, Blockchains und DAOs (Decentralized Autonomous Organization) nach wie vor keine substanziellen Trends dar. Twitters hauseigenes Reformprojekt Bluesky wird von Kryptoprogrammierern und den Evangelisten dezentraler Open-Protocol-Plattformen geprägt.

 

Nach wie vor ist jedoch unklar, ob die Blockchain-Technologie eine komplexe Plattform wie Twitter überhaupt in Gang bringen kann. Mit Bluesky möchte Twitter – das war der Stand vor Musks Übernahme-Flirt – doch noch die digital-emanzipatorische Kurve kriegen. Das Internet, das in seiner DNA einen dezentralen Kern hat, soll doch noch zu einem fortschrittlichen und emanzipativen Instrument umgebaut werden?

 

Mastodon (4,4 Millionen Nutzer, Twitter: 217 Millionen) ist eine der dezentralen Plattformen, die sich in letzter Zeit als Alternative zu Twitter hervorgewagt haben. Als Musk im April den Kauf von Twitter ankündigte, wechselten Zehntausende auf Mastodon. Die Anzahl stündlicher Posts verdoppelte sich (von 5.000 Anfang April zu 10.000 Ende April), was bei den Servern vorübergehend zu Performance-Problemen führte.

 

Das junge soziale Medium wird dezentral über verschiedene Server (Privatpersonen, Vereine) betrieben. Das nutzte das rechte soziale Netzwerk Gab 2019 dazu, bei der Flucht vor der Justiz zwischenzeitlich komplett auf Mastodon umzuziehen. Experten, die in den USA das Verhalten von Rechtsextremisten im Internet beobachten, gehen davon aus, dass diese mit ihren Inhalten künftig regelmäßig in Peer-to-peer- und Open-Source-Netzwerke emigrieren könnten, um sich der Beobachtung durch die Justiz zu entziehen.

 

Öffentlichkeit braucht Themenrelevanz und Unterscheidungsvermögen

 

Hier wird noch einmal das Dilemma dezentraler Netzwerkeuphorie greifbar: Sie ermöglichen es rechtsextremen Aktivisten, sich der Verfolgung zu entziehen, und stellen so auch weiterhin für den wütenden Netzmainstream gefährliche Kontaktpunkte zu rechten Inhalten dar.

 

Gleichzeitig gestatten es dezentrale Plattformen, dass sich marginalisierte Minderheiten über das Netz organisieren können. Die politische Naivität der Dezentralisierungs- und Kryptoanhänger hat schon jetzt vieles verhindert.

 

Es ist nicht davon auszugehen, dass sich Twitter zu einem DAO mendelt. DAOs sind bislang nichts anderes als ein „Gruppenchat mit angeschlossener Bankverbindung“.

 

In den Jahren vor Musks Twitter-Kauf verleibten sich Milliardäre klassische Medienmarken für einstellige Milliardenbeträge ein. Aber interessiert es Musk, den vielleicht einflussreichsten Milliardär unserer Zeit, wirklich, Twitter im Dienst der Meinungsfreiheit neu aufzustellen? Alles keine Rocket-Science für Elon?

 

Nein, Musk geht es nicht um Pressefreiheit. Und vielleicht ist das, was ihm unter Berufung auf eine hehre Vokabel wie Meinungsfreiheit im Kopf herumspinnt, noch anarchischer als das aktuelle Twitter.

 

Musks diffuse Vorstellung von Free Speech folgt der alten neoliberalen Vorstellung von Meinungsfreiheit: Jeder darf grundsätzlich alles sagen – das Wichtigste wird sich irgendwann automatisch herausmendeln. Doch ein solcher deregulierter Markt der Meinungsäußerung hat in den vergangenen Jahren die Eingriffe von Rechtspopulisten und Putins Trollfarmen erst möglich gemacht. Eine funktionierende Öffentlichkeit entwickeln wir nicht durch die technologische Lösung einer Blockchain, sondern durch den Zugang für alle Menschen zu den relevanten Themen der Zukunft und durch die Produktion von Unterscheidungsvermögen.

 

Jürgen Habermas hat das so beschrieben: „Ein demokratisches System nimmt im Ganzen Schaden, wenn die Infrastruktur der Öffentlichkeit nicht mehr die Aufmerksamkeit aller Bürger gleichmäßig auf die relevanten und entscheidungsbedürftigen Themen lenken und wenn sie die Ausbildung konkurrierender öffentlicher, und das heißt: qualitativ gefilterter Meinungen, nicht mehr auf einem angemessenen Niveau leisten kann.“

 

Twitter und Demokratie, nach wie vor eine schwierige Geschichte.

 

Zuerst erschienen in Handelsblatt, 28. Mai 2022