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Putins Russland oder das krachende Scheitern an einem Zukunftsentwurf

Bild: dpa
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Wir sehen zwei demoralisierte alte Männer, die hochgefährlich sind. Putin und der belarussische Machthaber Lukaschenko verfolgen aus Moskau ein gemeinsames Manöver. Auf die Opposition im eigenen Land prügeln sie hilflos ein oder vergiften gleich ihre Anführer. Russland in der Ära Putin seit 1999, das ist die Geschichte eines dramatischen Bedeutungsverlustes (den etwas unbeholfenen Vasallen links im Bild ignorieren wir in diesem Text). 

 

Im Bildvordergrund sehen wir das halbwegs vorzeigbare Böhmische Dorf aus lackiertem Billigholz. Dahinter vermutet man gleich unendliche Rumpelkammern und miefigen Biedermeier-Kitsch aus der Sowjetzeit. Putins Welt ist eine zusammengelogene Vergangenheitswelt. Nichts verweist nach vorne. Sein erträumtes Imperium besteht aus Männerschweiß, religiösem Klimbim und patriarchalischen Weltbildern aus dem 19. Jahrhundert. Doch seine Truppen töten, in Mali, in Syrien und in der Ukraine.Alles wirkt zweitklassig und ein bisschen abgewohnt, wenn Putin auftritt. Alles irgendwie von gestern. Die Hochtechnologie, die der Diktator für seine Atomraketen braucht, entwickelt Russland nicht selbst, sondern muss sie teuer im Ausland einkaufen. 

 

Wer ist Vladimir Putin? Um ihn herum ist überall ermatteter Glanz, die ausgehöhlte Pracht längst vergangener Zeiten. Putin ist kein Ideologe, kein Überzeugungstäter, er hat keine Vision. Putin ist ein Taschenspieler. Erbverwalter des Zarismus, des real existierenden Sozialismus? Ein sentimentaler Reichsverweser und das rachsüchtige Mastermind hinter Desinformation und autoritärem Populismus. Ein homophober Männerbündler, der – wer nur auf diese Idee gekommen ist – in friedlicheren Zeiten gerne seinen schwammigen Oberkörper hoch zu Ross fotografieren ließ.

 

Putin versucht, mit FakeNews, Cyberwar, dreisten Lügen, Verleumdungen und miesen Kleingauner-Tricks wie ein billiger Lude (siehe die systematische Unterstützung rechtsradikaler Netzwerke in Westeuropa, nicht zuletzt die AfD) seine Gegenspieler zu irritieren. 

 

Zu Beginn seiner Regentschaft, in den 2000er Jahren, hat er sich zum Schein an das demokratische Modell des westlichen Kapitalismus herangeschmissen. Er wollte damit Zeit gewinnen und die Milliarden für seinen Oligarchenzirkel zusammenkratzen. Als nächstes folgte in den 2010er Jahren der Komplettausbau seiner autokratischen Herrschaft, bei der er sich – wieder nur zum Schein - als Bewahrer nationaler, christlich-orthodoxer oder wahlweise europäischer Werte ausgab. 

 

Selbstmitleid, ein Minderwertigkeitskomplex, Wut und Ranküne, visionslose, eiskalte Machtbehauptung (was kommt nach Öl und Erdgas?). Putin hat es mit der toxischen Kommunikationsstrategie des Whataboutism zur Meisterschaft gebracht: Ablenken, lügen, manipulieren, Ihr seid ja auch nicht besser. Mit dem Reaktionsmuster der Imitation hat er den Westen lange im Glauben bestärkt, auch Russland werde früher oder später den Sieg des Kapitalismus und die totale Niederlage des Sowjetsystems dankbar und demütig eingestehen. Weit gefehlt. 

 

Putin verlangt Sicherheiten, die er selbst aufgekündigt hat

Misstrauen ist bei ihm nicht nur die deformation professionelle des Ex-KGBlers und wuchs sich im Lauf der Jahre zur Paranoia aus. Seine offenbar panischer Furcht vor einer Covid-Ansteckung (deswegen der lächerliche 6-Meter-Tisch) sagt sehr viel über ihn aus. Und mitten in der Aggression gegenüber der Ukraine klagt er Sicherheiten ein, die er vor Kurzem selbst aufgekündigt hat.

 

Putins Paranoia zeigt sich vor allem darin, dass er seit seinem berühmten Rant auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 (https://is.muni.cz/th/xlghl/DP_Fillinger_Speeches.pdf) (Putin: „Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“) beharrlich Sicherheiten einfordert, obwohl Russland von niemandem bedroht wird. Die Armeen der NATO, das wird von vielen Experten bestätigt, sind überhaupt nicht angriffsfähig. Was also will er eigentlich? 

 

Das Minsker Abkommen hat Putin mehrmals gebrochen. Die NATO-Russland-Akte von 1997 enthielt ein ganzes Bündel an Sicherheitsgarantien, von denen sich der Kreml-Imperator Stück für Stück für den feuchten Traum eines Neurusslands distanziert hat. Maßnahmen wie die Integration Russlands in die Welthandelsorganisation (WHO), der NATO-Russland-Rat, die NATO-Russland-Akte bis zum KSE-Abkommen (Abkommen zu den konventionellen Streitkräften in Europa) hat Putin ausgeschlagen. Und zusammen mit seinem Buddy Trump hat er den Vertrag über Mittelstreckenraketen (INF) zum Scheitern gebracht. 

 

Der gekränkte Russland-Herrscher wünscht sich nichts weniger (man wird doch noch träumen dürfen?!), als dass die USA komplett aus Europa abziehen. Weil er hin und wieder sentimental von einem Europa der großen Nationen träumt, ist er selbst aus der Sicherheitsordnung ausgestiegen. Um sein Zarenreich herum soll sich eine Einflusssphäre an Vasallenstaaten bilden, die in unmittelbarer Abhängigkeit zum Autokraten Putin stehen.

 

Putins Alleinstellungsmerkmal: Ablenken von der eigenen Unfähigkeit

Seit einigen Tagen nun haben sich drei Viertel (!) der russischen Streitkräfte an der Grenze zur Ukraine aufgestellt. Wie lange lässt sich das der russischen Bevölkerung zumuten? Momentan funktioniert der Nervenkrieg der Presseverlautbarungen so, dass die Seite der NATO detailiert auf mögliche Angriffsziele hinweist, die der Taschenspieler im Kreml nicht zuletzt über das Vehikel inszenierter Provokationen zu Kriegsschauplätzen machen könnte. Diffus ist weiterhin, welche Rolle wirtschaftliche Kooperationen und damit mögliche Sanktionen spielen. Besonders delikat: Russland ist seit 2021 der zweitwichtigste Erdöllieferant der USA, weil Putins Ölfirmen die ausbleibenden Lieferungen aus Venezuela kompensieren. Die USA baut also gerade ihre Energiepartnerschaft mit Russland aus, blickt aber kritisch auf das Nordstream-2-Projekt. Wenn jedoch, wie von der Bundesregierung angekündigt, Nordstream 2 bei einem russischen Angriff auf die Ukraine gestoppt wird, kostet das Deutschland, die Niederlande, Italien mindestens 4,5 Milliarden Euro Konventionalstrafe. Teure Maßnahmen im Spiel mit der Kriegsangst.

 

In ihrer lesenswerten Osteuropa-Analyse beschreiben Ivan Krastev und Stephen Holmes Putins Diktatur als ein „Regime, das die Menschen weder ausbeutete (wie Chinas heutige Exportwirtschaft), noch versuchte, >neue Menschen< aus ihnen zu machen (wie die alte Sowjetunion), sondern sie vielmehr mit relativem Wohlstand und Stabilität beruhigte und sie dann ignorierte, während die Herrschenden astronomische Reichtümer aus dem Verkauf der natürlichen Ressourcen Russlands im Ausland anhäuften. Der Kern von Putins Staatskunst war (und bleibt) die Tarnung der Unfähigkeit und nicht der Aufbau von Fähigkeiten. („Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung“ (2021), S. 158/159) 

 

Putin hat keine Werte, er ist ein Nihilist reinsten Wassers. Als bekennender Zyniker zieht er sich in eine selbstgezimmerte Vergangenheit zurück, die - wenn Putin in seinem Namen Essayistik fabrizieren lässt (https://www.zeit.de/2022/07/wladimir-putin-russland-ukraine-aufsatz) - an schwindelige sozialistische Plattenbau-Architektur erinnert und jeder historischen Überprüfbarkeit Hohn spricht. Die Ukraine gehört nicht zum „russischen Wesen“. Niemand möchte in Putins populistisch-religiös-autoritäres Nowhere Land von Früher zurück, dass so nie und nimmer existiert hat und höchstens von ein paar orientierungslosen AfD-Junggesellen herbeigesehnt wird. Noch einmal Krastev und Holmes: „(Putins) Gewicht ist minimal, verglichen mit dem Einfluss, den die Sowjetunion einst hatte. Es ist ihm zwar gelungen, seine Position kurzfristig zu verbessern, doch die langfristigen Perspektiven als globales Schwergewicht sind fraglich.“ („Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung“ (2021), S. 169)

 

Machen wir uns nichts vor. Putins Unfähigkeit und seine chronische Erfolglosigkeit machen ihn gefährlich wie einen getretenen Straßenköter, der nichts mehr zu verlieren hat. Russland hat keine Vision für eine gute Zukunft. Momentan trägt das Erdöl- und Erdgasgeschäft noch recht gut. In den kommenden zehn Jahren wird sich das ändern. Putin der Zögerer und Feigling hat es nicht geschafft, sein Land auf die Zukunft vorzubereiten. Er ist in einer totalitären Oligarchen-Mafioso-Gesellschaft gefangen. Ökonomisch befindet sich das Land auf gleicher Höhe mit Italien. Seine Ratlosigkeit hat das Land von Trends wie Wasserstoff abgeschnitten (auch wenn sich das technologisch ohne große Probleme einrichten ließe). Die Jungen fliehen seit Jahrzehnten aus der rückständigen Oligarchen-Diktatur. 2015 befand sich bereits mehr als die Hälfte des russischen Vermögens im Ausland. (Gabriel Zucman: The Wealth of Nations, 2016.) Die Lebenserwartung erwachsener Männer in Russland liegt unter der im Sudan, Ruanda und dem von AIDS verwüsteten Botswana. Zwischen 1993 und 2010 ist die russische Bevölkerung von 148,6 Millionen auf 141,9 geschrumpft. Zukunft geht anders.