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6 Thesen zu Freiheit, Autonomie und Solidarität in verzwickten Zeiten

München, Theresienwiese, Sommer 2021, Quelle: shutterstock
München, Theresienwiese, Sommer 2021, Quelle: shutterstock

 

Zum Ende des Jahres sollten wir uns die Frage stellen, wie wir mit unserer Gesellschaft weiterkommen und wie wir 2022 mit den einschlägigen Risiken und Bedrohungen (Pandemie, Ungleichheit, Klimawandel, Inflation) weiterkommen. Wir sind konfrontiert mit einer Minderheit von Wissenschaft- und Modernitätsverweigerern (zu denen auch der Pseudo-Philosoph Richard David Precht gezählt werden muss), Feinden der Demokratie (denen auch die Nähe zum Rechtsradikalismus nicht abschreckt) und verunsicherten und demoralisierten Menschen (zu denen auch das Fußball-Idol Joshua Kimmich gezählt werden muss).

 

Alles nicht zufällig, alles kündigte sich schon  lange Zeit an, angefangen durch den Schock der Weltwirtschaftskrise 2007/2008, bei den Wutbürgern um Stuttgart 21 und den Pegida-Demonstrationen 2015 in Dresden.   

 

6 Thesen zur Zukunft unserer Gesellschaft: 

 

1. Die „Freiheit-zum-Konsum“ kann nicht alles sein: Wie wir gesehen haben, hat die klandestine Identifikation von Freiheit und Konsum eine lange Geschichte. Die neoliberale Ideologie und die Enttäuschung und Verängstigung durch 2008 hat Bilder von individueller Freiheit und Selbstverwirklichung geschaffen, die fast komplett abgekoppelt erscheinen von Verantwortungsbewusstsein und erwachsenem Handeln, sodass Zuschreibungen wie Wohlstandsverwahrlosung tatsächlich einen Sinn ergeben. Auf den Hygienedemonstrationen rebelliert die „Priorisierung des inneren Selbst“, das Konsum-Ego, gegen die Mindestanforderungen an Solidarität, Gemeinschaftsgefühl und zivilgesellschaftlicher Verantwortung. Nietzsches Zarathustra, der Säulenheilige der Neoliberalen, der keine moralischen Fesseln duldet, wird in den polarisierten USA in der Jetset-Rechtspopulistin Jenna Ryan wiedergeboren: Hyperindividualismus als Wutattacke gegen Demokratie. Als „Prothesen-Götter“, die wir sind, müssen wir lernen, dass individuelle Freiheit ohne Verantwortung (das Unbehagen in der Gesellschaft) nicht zu haben ist. Ohne geteilte Werte kein Zusammenleben. Menschliche Würde und Freiheit besteht nicht in der Freiheit zu konsumieren, sondern beruht – durchaus im Sinne Immanuel Kants - auf der Fähigkeit des Individuums, moralische Entscheidungen zu treffen. In den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts bedeutet das vor allem anderen: nachhaltig zu leben.  

 

2. Vertrauen in Institutionen wiedergewinnen, neue Institutionen schaffen: Matthias Pöhlmann, Weltanschauungsbeauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, beobachtet bei den Corona-Demonstrationen und insbesondere auf Seiten der Esoteriker ein Unbehagen gegenüber jeglicher Form von gesellschaftlicher Organisation: „Man spricht auch von einem antiinstitutionellen Affekt. Der richtet sich nicht nur gegen die Medizin, die Religion, sondern jetzt zunehmend eben auch gegenüber der Politik und gegenüber den Medien.“ Expressiver Individualismus erklärt Institutionen schlicht für verzichtbar. Im Zuge des Green New Deal müssen wir neues Vertrauen für politische und staatliche Organisation erzeugen. Das Vorgehen der EU gegen US-amerikanische Tech-Konzerne im „Digital Service Act“ ist ein wichtiges Beispiel dafür, wie Glaubwürdigkeit durch selbstbewusstes Handel wiederhergestellt werden kann.

 

3. Vom „Anything Goes“ zu einer globalen Verantwortungsethik: Es ist wahr, nach 1989 dachten wir alle: „Anything Goes“. Der Mauerfall war ein Triumpf des Kapitalismus und der freien Welt. Das hat jedoch nicht zum Ende der Geschichte geführt, ganz im Gegenteil. Von „Anything Goes“ und postmodernem Werterelativismus sind eine global Wirtschaftselite der 1 Prozent, schreiende Ungleichheit überall auf der Welt und Corona- und Klimaskeptiker geblieben, die in ihrem wertezerstörenden Relativierungstaumel schnell auch mal den Holocaust leugnen („Jana aus Kassel“) und dabei nicht wissen, was sie tun. Jetzt sind wir mit den planetaren Grenzen unserer Welt konfrontiert. Um in dieser neuen Weltlage zurecht zu kommen, brauchen wir Freiheit UND Verantwortung. Wir brauchen eine globale Ethik, die festlegt, was Gut und Böse ist. Willkommen zurück in der Geschichte: Die Bekämpfung des Klimawandels ist ethisch geboten und alternativlos. Das Unbehagen in einer Transformationsgesellschaft, die hierfür die Vorkehrungen trifft, müssen wir aushalten. Unreifes Ausweichen vor der Realität muss uncool werden. Wir können es uns schlicht und einfach nicht leisten.

 

4. Solidarität und Autonomie: Neue Lebensstile nach der Ära der Marktgläubigkeit: Wir erkennen, dass die alten Konzepte der Konsum- oder Erlebnisgesellschaften nicht mehr greifen. Der Green New Deal kann eine Perspektive entwickeln, wie eine Wirtschaft funktioniert, bei der Konsum und Märkte nicht mehr im Vordergrund stehen. Märkte sind hervorragende Vehikel für Innovationen und neue Ideen – sie dürfen jedoch nicht nur kurzfristigen Zwecken dienen. Von hier aus können wir neue Lebensstile entwickeln, die in sozialer, ökonomischer und ökologischer Hinsicht nachhaltiger sind. Wir sind überzeugt davon, dass das möglich ist und dass ein besseres Leben für alle möglich ist. Der Philosoph Markus Gabriel erklärt einen solchen neuen Gesellschaftsentwurf folgendermaßen: „Ziel einer aufgeklärten Gesellschaft ist vielmehr Autonomie – die Selbststeuerung ihrer Mitglieder durch moralische Einsicht. Angesichts der Bedingungen der modernen Arbeitsteilung und der Unübersichtlichkeit der komplexen globalen Produktionsketten brauchen wir einen ebenso globalen ‚Geist des Vertrauens‘, also mehr von dem, was wir ländläufig als ‚Solidarität‘ bezeichnen.“

 

5. So etwas wie eine postkonsumistische Identität braucht vor allem zivilgesellschaftliche Teilhabe: So unterschiedlich individuelle Freiheit von Konservativen und Neoliberalen auch definiert sein mag, der Bezug auf individuelle Freiheit funktioniert in der Regel über die Projektion eines Feindbildes oder eines Untergangsszenarios: Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat, Sozialismus. In den kommenden Jahren müssen wir an neuen und innovativen Formen der Vergesellschaftung arbeiten. Wir brauchen ein neues Wir, ein positiv besetztes Wir, Reallabore für Demokratie und Nachhaltigkeit, Bürgerräte und progressive Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements. Das ist der Pfad zu einer postkonsumistischen Identität (nicht der selbstverliebte Blick auf das innere Selbst).

 

6. Wir müssen unsere Freiheits- und Glücksversprechen erneuern: Freiheit bedeutet Selbstverantwortung, Freiheit wird dadurch zu einem wichtigen Bestandteil vernünftigen und verantwortungsbewussten Handelns. Die Freiheit des Einzelnen setzt eigentlich immer die Freiheit aller voraus. Freilich gehört das Streben nach Glück (hier ist Freud sehr skeptisch) auch im Green New Deal dazu. Aber das Streben nach Glück, wie es der kluge Thomas Jefferson, Universalgelehrter und dritter US-Präsident, gesehen hat, bedeutet nicht gleichzeitig, dass wir auch von dem Erlangen desselben ausgehen können. Und Glück darf im 21. Jahrhundert nicht mehr durch die Zurverfügungstellung von Konsumoptionen auf Kosten Unterprivilegierter (Stichwort: Privatisierung von Gesundheit) angestrebt werden.

 

Quelle: Eike Wenzel: Das neue grüne Zeitalter, München 2021.