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Wie Lieferdienste den Tante-Emma-Laden retten

Quelle: shutterstock                                                       Retten autonome Lieferdienste den stationären Handel?
Quelle: shutterstock Retten autonome Lieferdienste den stationären Handel?

Ausgerechnet die autonome Mobilität könnte kleinen Geschäften helfen zu überleben. Erste Erfolgsbeispiele finden sich in Asien und in den USA.

 

In der Pandemie sind Essensbringdienste und Lebensmittellieferservices wie Pilze aus dem Boden geschossen. Corona hat hier – wie in vielen digitalen Bereichen – Trends beschleunigt, die vorher schon erkennbar waren.

 

Die Milliarden-Dollar-Frage lautet ebenso banal wie bahnbrechend: Auf welchen Wegen kommt künftig das Essen zu uns nach Hause?

Allerdings versprach der Trend, wonach das Essen künftig immer mehr zu den Menschen kommt und nicht umgekehrt, bis vor Kurzem nicht unbedingt das „next big thing“ zu werden. Die Konkurrenz ist groß, die Gewinnspannen sind klein, und die Beschwerden über unzumutbare Arbeitsbedingungen der Kuriere füllen ganze Internetforen.

 

Mit Gorillas und Flink greifen hierzulande gerade Lieferkonzepte den verstaubten Einzelhandel an der Ecke an, die minutenschnell per E-Bike (aber auch zu „sportlichen“ Preisen) beim Kunden vor der Tür stehen und sogar (wie beispielsweise Knuspr in München) regionale Erzeuger mit einbeziehen.

 

Damit scheint endgültig das letzte Stündchen für den immobilen Handel geschlagen zu haben.

 

Die Technik hilft der Profitabilität

 

Aber wie lassen sich die Bringdienste profitabel machen? Hier kommt die selbstfahrende Technologie ins Spiel. Intelligente Bestelllösungen und automatisierte Mobilität verleihen seit einiger Zeit der Zustellung auf der letzten Meile eine neue Ausrichtung.

 

Sie versprechen nicht nur eine Senkung der Zustellkosten um bis zu 30 Prozent, sondern auch eine höhere Kundenzufriedenheit. Wichtige Elemente sind Sendungsnachverfolgung, mittlerweile gut prognostizierbare Liefertermine, Re-Routing (Zustellung von Paketen an ein anderes Ziel oder zu einem anderen Termin), Trackingtechnologien und dynamische Tourenplanung. Viele der Services sind mittlerweile Standard.

Sollen autonome Bringdienste zum Erfolg werden, müssen sie in den nächsten Jahren in der Lage sein, bestellte Waren innerhalb von Stunden oder Minuten zu liefern. Das lässt sich nur mithilfe der kleinen Bordstein-Bots leisten, die dann unsere Gehwege bevölkern könnten. Das Innovative daran: Ein privates Automobil bräuchte es für den alltäglichen Einkauf dann nicht mehr.

 

Wie rasant sich die Entwicklung bei den selbstfahrenden Bringdiensten vollzieht, untermauert die Studie „Fast forwarding last-mile delivery“ aus dem Hause McKinsey. Innerhalb kürzester Zeit, stellen die Forscher fest, haben es Zukunftstechnologien in der Logistik vom bloßen Konzept zu umfassenden Piloteinsätzen und sogar bis zur Serienreife gebracht: Elektrofahrzeuge kommen weltweit schon in zahlreichen Städten zum Einsatz, autonome Lieferwagen und Zustellroboter absolvieren Straßentests, erste Drohnen transportieren Pakete in abgelegene Gebiete.

 

Die letzte Meile ist entscheidend

 

Stark beachtete Start-ups wie Nuro, Aurora oder Zoox gehen zu Recht davon aus, dass die Zeit für vollausgerüstete selbstfahrende Autos (Passagiere und Ladung) noch nicht reif ist. Dafür setzen sie auf spezialisierte, abgespeckte Lieferwagen mit kleinen Akkupaketen. Schließlich geht es vor allem um die letzte Meile zwischen Ladenlokal, Auslieferungslager und Kunden.

 

Nuro sieht in kompakten Elektrolieferwagen (dem „R!“) die ideale Lösung für das Problem. Mit nur einem Nachteil: Der Empfänger muss zu Hause oder im Büro sein, um die Ware persönlich in Empfang zu nehmen. Auf der Nuro-App sieht der Kunde genau, wo sich der Lieferroboter gerade befindet, und muss ihn dann am Bürgersteig abpassen.

 

Asiatische Onlinegiganten wie JD.com oder Alibaba suchen schon länger händeringend nach Lösungen, um eine gigantische Kundennachfrage in den riesigen Millionenstädten und in unüberschaubar großen Wohnblocks zu befriedigen.

 

Das estnische Start-up Starship schickt seine autonomen Wägelchen auf Teststrecken in Milton Keynes in Großbritannien und an der George Mason University (Washington D.C.) in Kooperation mit Coop und Tesco auf den Weg.

 

Der sechsrädrige Bordsteinkarren „Scout“ ist in Seattle und Südkalifornien testweise unterwegs. Kroger experimentiert mit autonomen Karren von Nuro. Testfahrzeuge von Udelv und Ford sind in Surprise, Arizona, und in Miami für Walmart unterwegs. Ford hat sich darüber hinaus mit dem Lieferdienst Postmates zusammengetan, um Akzeptanz und Funktionsweise von autonom fahrenden Lieferdiensten zu testen.    

 

Da mag es mehr als gewagt anmuten, dass die zunächst mühselig an den Start gebrachten, jetzt mit hektischer Betriebsamkeit auftauchenden Bringdienste in einigen Jahren sogar im Dienst der Nachhaltigkeit und eines radikal neu designten Einkaufserlebnisses unterwegs sein könnten.

 

181 Milliarden Autofahrten für Milch oder Kekse

 

Schauen wir in die USA, um den Zukunftsmarkt der autonomen Bringdienste besser einschätzen zu können. Nach Berechnungen der US-Regierung, die vom „Bureau of Transportation Statistics“ veröffentlicht wurden, unternehmen die Amerikaner insgesamt rund 1,1 Milliarden Autofahrten pro Tag.

 

Von diesen Fahrten entfallen fast 45 Prozent auf Lebensmitteleinkäufe und ähnliche kleine Besorgungen. Nicht zuletzt aus Umweltgründen eine problematische Zahl. Rechnet man die Zahl auf ein Jahr hoch, ergeben sich rund 181 Milliarden Autofahrten, nur um mal schnell Milch oder Kekse aus dem Lebensmittelgeschäft zu holen.

Selbstfahrende Vehikel, so die Überzeugung der Akteure, könnten (noch vor der Personenbeförderung) bei Bringdiensten eingesetzt werden und das Geschäftsmodell endlich auf sichere Füße stellen.

 

Der nächste logische Innovationsschritt besteht in Lieferfahrzeugen mit Elektroantrieb und Packstationen mit digitalen (zeitunabhängigen) Zugängen. Sie sind schon heute im Begriff, sich breitflächig am Markt durchzusetzen.

Ab Mitte der 2020er keine menschlichen Zusteller mehr?

 

In einem zweiten Evolutionsschritt werden in drei bis fünf Jahren teilautonome Lieferfahrzeuge das Segment der Paketzustellung erobern. In dieser Übergangsphase auf dem Weg zur Vollautomatisierung unterstützen intelligente Fahr- und Parksysteme die Zusteller, helfen ihnen, Zeit zu sparen, und erhöhen so die Produktivität.

Behält die technologische Entwicklung ihr bisheriges Tempo bei, werden wohl spätestens Mitte der 2020er-Jahre für die Warenauslieferung keine menschlichen Zusteller mehr vonnöten sein.

 

Auf der Nutzfahrzeug-IAA 2018 in Hannover stellte Mercedes die Studie „Vision Urbanetic“ vor: Der E-Sprinter der Zukunft wird als führerloser Kurierlaster von einer Zentrale aus gesteuert und dient als autonome Packstation.

Ob selbstfahrende Transporter oder auch Lieferdrohnen im nächsten Jahrzehnt zum Einsatz kommen, ist keine Frage der Technik mehr, sondern des Geschäftsmodells und der staatlichen Regulierung.

 

Eine Chance für den Einzelhandel

 

Wird der stationäre Handel diese digitale Transformation überleben? Warum nicht. Der Einzelhandel selbst könnte durch die neue Generation der Bringdienste tatsächlich gerettet werden, denn dadurch ließe sich möglicherweise auch der Durchmarsch von Amazon im E-Commerce und vor allem im Lebensmitteleinzelhandel (Amazons Kooperation mit dem Biohändler Whole Foods Market) verhindern.

 

Wohngebietnahe Supermärkte oder Läden würden als stationäre Läden und Logistikhubs zugleich fungieren. Von hier aus werden die großen Warenlieferungen (die früheren Wochenendeinkäufe) mit den autonomen Bringdiensten vor die Haustüren der Verbraucher geschickt, während die Verbraucher die Wahl haben, in diese neuen Einkaufszentren zum Genusseinkauf aufzubrechen oder andere Läden, Stadtteile oder Märkte dafür anzusteuern.

 

Die Zielgruppe für diese teildigitalen Handelskonzepte in stätischen Räumen, in denen im Lauf der 2020er-Jahre keine umweltverschmutzenden Privatautos mehr unterwegs sein werden, wartet bereits: die Millennials, die zu Beginn der 1980er-Jahre und später geboren wurden. Unter ihnen gibt es, wenn man US-Zahlen glauben darf, längst eine hohe Bereitschaft, den (Einkaufs-)Alltag mit autonomer Mobilität zu bestreiten.

 

Und die zurzeit viel diskutierte Generation Z (geboren 1995 und später) wird Mitte der 2020er-Jahre mit den autonomen Fahrzeugen erwachsen, erfahrener und älter werden.

 

Spätestens zu Beginn der 2030er-Jahre, davon ist auszugehen, werden sich individuelle Mobilität, Elektromobilität und digitale Versorgungsinfrastrukturen auf übergreifenden Plattformen organisieren. Spätestens dann klingelt morgens der autonome Milchmann – aber auch der gut sortierte Supermarkt an der Ecke wird weiterhin eine Option sein.

 

Zuerst erschienen in Handelsblatt, 30. April 2021