· 

So retten wir das Internet

Die Taipei-U-Bahn-Linie 1  Quelle: Shutterstock
Die Taipei-U-Bahn-Linie 1 Quelle: Shutterstock

Wie lässt sich das Internet aus der Umklammerung von Desinformation, Hass und Plattform-Monopolen befreien? Die digitale Demokratiebewegung in Taiwan zeigt, dass das Netz doch konsensfähig und progressiv sein kann (wenn es auch nicht jeden glücklich macht). Das Internet ist kaputt, also müssen wir es neu aufbauen, denn es ist für unsere Zukunft viel zu wichtig, um es den Gafa-Monopolisten (Google, Amazon, Facebook, Apple) zu überlassen.

 

Anfang Februar hackte der taiwanesische Software-Ingenieur Howard Wu die populäre Messenger-App Line, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Zustand dauerfrequentierter Hysterie angesichts von Covid19 befand. Wu verknüpfte die App mit Google Maps, so dass die taiwanesische Bevölkerung schnell erkennen konnte, in welchen Läden noch Mund-Nasen-Masken vorrätig waren und wo nicht. Google verlangt eine Gebühr pro 1.000 Zugriffe auf das Kartensystem. Wu flatterte deshalb einige Tage später eine Rechnung in Höhe von 26.000 US-Dollar ins Haus. Die aktive Community sprang Wu bei, wenig später verzichtete Google auf die Zahlungen, weil Wus Hack sich als äußerst hilfreiche Maßnahme gegen die Pandemie herausstellte. 

 

Audrey Tang, Taiwans Digital-Star im Rang einer Ministerin, brachte das auf die Idee, den für die schnelle Pandemiebekämpfung wichtigen Maskenvertrieb über das Apothekennetzwerk der nationalen Gesundheitsbehörde zu organisieren. Der Vorteil dabei: die Daten, die in diesem Prozess generiert werden, können von den Nutzern, den Behörden und der lebendigen Hackerszene des Landes weitergenutzt werden. 

 

Wenn sich in Taiwan Konflikte anbahnen oder Pandemien zerstörerisch zu werden drohen, wird zuallererst eine Frage gestellt: Wie lassen sich Datenpunkte möglichst effektiv verknüpfen? Daten, am besten in Realzeit analysierbar, das ist in Taiwan ein gelerntes Verhalten, sind der erste Schritt, um Probleme in der analogen Welt zu lösen. Der digitale Raum ist dafür da, um gesellschaftliche Themen zu adressieren und Alltagsprobleme zu lösen. Als Grundregel gilt dabei stets, dass die erzeugten Daten grundsätzlich jedem zur Verfügung stehen sollten und es eine digitale Öffentlichkeit gibt, die alle Bürger zur Beteiligung anregt. Offenbar hat Taiwan großes Vertrauen in seine Vernetzung. Das Corona-Containment funktionierte in dem 23-Millionen-Einwohner-Land vor allem deshalb besonders gut. Taiwan verzeichnet lediglich sieben (!) Tote seit Ausbruch der Pandemie.

 

Situative Apps für eine zukunftsoffene Gesellschaft

Die taiwanesische Demokratie ist offensichtlich mit einer digitalen DNA ausgestattet. Audrey Tang, die hochbegabte Trans-Frau, gründete mit 16 Jahren ihr erstes Unternehmen und setzte sich 2014 an die Spitze der taiwanesischen Civic-Hacker-Bewegung, als sie an der Besetzung des Parlamentes durch das Sunflower Movement teilnahm. Die Protestierenden bewegten die Open-Source-Aktivistin Audrey Tang und ihre Gruppe dazu, durch Realzeit-Berichterstattung und den Einsatz von digitalen Beteiligungs-Tools direkten Einfluss auf das umstrittene taiwanesisch-chinesischen Handelsabkommens (ECFA) zu nehmen. Die damalige konservative Regierung musste sich in vielen Punkten dem digitalen Protest beugen. Die Botschaft war unmissverständlich: das Netz lässt sich offenbar doch zu etwas Vernünftigem gebrauchen. Und progressive Staaten, Kommunen und Verwaltungen sollten überall auf der Welt entsprechende Kommunikationswerkzeuge entwickeln (Clay Shirky bezeichnet sie als „situative Apps“, die maßgeschneidert in gesellschaftspolitischen Debatten bis hin zu Abstimmungsprozessen eingesetzt werden können. 

 

Was können wir noch von der digitalen Demokratie in Taiwan lernen: dass Politik auch nichts anderes ist als Coding. Zwischen 1991 und 2005 wurde die Verfassung des Inselstaates siebenmal überarbeitet. Für einen Programmierer ist es normal, seinen Code immer wieder umzuschreiben und den sich verändernden Anforderungen anzupassen. Für die taiwanesische Aktivisten sind politische Interventionen nichts anderes als Programmierungsschritte, die möglichst einfache Lösungen herbeiführen sollen. 

 

Womöglich liegt der Grund für die taiwanesische Liebesheirat zwischen Demokratie und Digitalisierung darin, dass sich der demokratische Aufbruch in Taiwan zeitgleich mit der Entwicklung des Internets vollzog. Die ersten freien Wahlen in dem Inselstaat fanden 1996 zeitgleich mit der Entwicklung des Internets zu einem Mainstreammedium statt. In Taiwan entwickelten sich also in dem Moment zum ersten Mal demokratische Strukturen, als sich das Internet etablierte. Demokratie im 21. Jahrhundert – glückliches Taiwan!- ist hier ohne Digitalisierung gar nicht vorstellbar.  

 

Zumindest für die junge Generation in Taiwan ist klar, dass die Open-Source-Idee, das freie Teilen der Codes und vernetzte Informationen nicht nur ein Weg sind, hervorragende Software zu produzieren, sondern auch der Königsweg zur Entwicklung einer weltoffenen Gesellschaft.  

 

Ein paar Beispiele: Mit der g0v-Community-Seite wurde ein Instrument geschaffen, dass die Regierungsseiten spiegelt und für permanentes Kommentieren öffnet („Ask not why nowbody is doing this. You are the “nobody”!”). Cofacts.g0v.tw ist eine Fact-Checking-Seite, die von Freiwilligen betrieben wird, und in kürzester Zeit versucht, jede Desinformationskampagne durch inhaltliche Prüfung zu entlarven. Eine Chatbot auf dem beliebten Messenger Line tritt sofort in Aktion, wenn bei Nachrichten der Verdacht der Falschinformation aufkommt. 

 

Taiwan ist wie kaum ein anderes Land Fake News-Kampagnen ausgesetzt und reagiert (ähnlich wie Finnland als Nachbar Russlands) mit großer Ernsthaftigkeit auf Desinformation. Pol.is ist eine Plattform, auf der Meinungsbildung zu vielen unterschiedlichen Themen organisiert und Entscheidungen herbeiführt werden. Das Ziel besteht darin, aus einer anonymen Masse selbstbewusster Bürger zu machen: Teilhabe statt Troll-Kultur, „Turning crowds into coherence“. 

 

Gibt es wirklich so etwas wie ein konsensfähiges Internet?

Trump, Facebook und Twitter sind die prominentesten Disruptoren der 2010er Jahre. Damit haben sie vor allem unsere Demokratien an den Rand der Zerstörung gebracht. Den Civic Hackers in Taiwan geht es um Konsens und lösungsorientierte Kommunikation. In den für jedermann zugänglichen Beratungen, ob das Geschäftsmodell der Mobilitätsplattform Uber in Taiwan zugelassen werden soll, stellten die Organisatoren einfach keinen Reply-Button zur Verfügung, denn die Antwort-Funktion ist das Einfallstor für Trolle, Hasskommunikation, Desinformation und Spaltung. (Bei der Frage, ob Uber die etablierten Beförderungsunternehmen preislich unterbieten dürfe, steht dann nur Ja/Nein zur Wahl). Was für Facebook der entscheidende Hebel für die Kommerzialisierung der Nutzerdaten ist und zum Einlassventil für Hasskommunikation wurde, ist hier von vornherein ausgeschlossen.

 

Damit kommen wir an einen entscheidenden Punkt: Taiwan wendet sich aktiv gegen das Prinzip der Disruption. Es geht genau um das Gegenteil: Konsens. In der Welt der Open-Source-Programmierung gibt es den Begriff des „rough consensus“. Nicht jeder muss mit allem glücklich werden. Darum geht es den digitalen Demokratieaktivisten auch in der Gesellschaft. Es muss nicht jeder bei jedem Detail die Meinung des anderen teilen – ein bedenkenswerter Ansatz angesichts von Populismus, Polarisierung und Political Correctness.

 

Der Uber-Diskusssionsprozess, der sich nonstop über anstrengende vier Wochen erstreckte, fand auf dem Portal vtaiwan.tw statt und machte auch nicht alle glücklich. Uber zeigte sich von den Regulierungsmaßnahmen überhaupt nicht begeistert, zogen sich zunächst aus Taiwan zurück, um später dann doch zurückzukehren. Die taiwanesische Regierung entwickelte aus der Erfahrung mit Uber neue Richtlinien für die Plattform-Ökonomie und die Beförderungsbranche (Fahrerlizenzen, Tarife, Sozialversicherung), die anschließend zu Gesetzen gemacht wurden.

 

Nicht zerstören, sondern gemeinsame Wege finden, nicht polarisieren, sondern zusammenführen. An den extremen Polen einer Entwicklung entstehen immer nur Wahrheitsgehabe und Orthodoxie. An den radikalen Rändern formieren sich die Glaubenskrieger, bereit zum digitalen Gemetzel. Neues Vertrauen in das Internet lässt sich so nicht herstellen. Doro Bär, die deutsche Digitalisierungsstaatsministerin, hat vor kurzem in der Wirtschaftswoche eine „Bundeszentrale für digitale Aufklärung“ gefordert. Doro Bär ist keine Audrey Tang. Doch von den Civic Hackern in Taiwan können wir alle lernen, dass Offenheit, (Daten-)Transparenz und eine digitale Kultur des Konsenses das Vertrauen in die Gesellschaft und ihre Netze wiederherstellen kann. 

 

Zuerst erschienen in Handelsblatt, 15.10.2020