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Wie IT und Künstliche Intelligenz schon bald unsere Vorstellung von Gesundheit revolutionieren werden

Foto: Shutterstock
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Medizin, die sich die Gensequenzierung zunutze macht und anhand gigantischer Datenmengen individuelle Therapien maßschneidert, könnte das Kranksein abschaffen. Gleichzeitig könnte dieser Individualisierungssprung unserer Individualität ein Ende setzen – dann nämlich, wenn Kranksein auch nicht mehr erlaubt ist. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz brauchen ethische

Leitplanken (und ein demokratisches Gemeinwesen).

 

Im vergangenen Jahr sorgte Apples Kooperation mit Forschungsinstituten in Harvard und Stanford noch für Verwunderung. Die renommierten Hochschulinstitute nutzen die Daten von Apples Smart Watch, um neue Erkenntnisse über Frauengesundheit und in der Herzforschung gewinnen zu können. Gerade in der Frauengesundheit der USA war die Datenlage bislang kümmerlich und fragwürdig, da nur Gesundheitsdaten von Frauen mit Krankenversicherung - also in erster Linie weißer Frauen aus der Mittelschicht - in die Forschung einflossen. Apple-CEO Tim Cook trat im vergangenen Jahr nicht zufällig mit der Formulierung hervor, wonach Apples größter Beitrag zur Menschheit künftig im Gesundheitsbereich liegen werde.  

 

Gesundheit ist momentan der Schauplatz für Künstliche Intelligenz

Jetzt hat mit Microsoft ein weiterer Technologieriese eine groß angelegte Partnerschaft mit einem medizinischen Forschungsinstitut bekanntgegeben. Microsoft wird mit der Johns Hopkins University zusammenarbeiten, um den spannenden Trend der personalisierten Medizin oder „Precision Medicine“ weiterzuentwickeln.

 

Personalisierte Medizin ist ein spektakulärer Ansatz in der Medizinprävention und -therapie, der vor allem Gentechnik, aber auch das kulturelle Umfeld und den Lebensstil der Patienten berücksichtigt. Personalisierte Medizin ist allerdings nicht komplett neu, sondern wurde bereits vor rund zwanzig Jahren in der medizinischen Forschung kontrovers diskutiert. Das Dilemma zu diesem Zeitpunkt: Damit die Präzisionsmedizin effektiv eingesetzt werden kann, müssen Forscher in der Lage sein, große Datenmengen zu sichten und zu analysieren. Mittels Cloud-Anwendungen, maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz ist das mittlerweile möglich

 

Das Bahnbrechende an der personalisierten Medizin besteht in erster Linie darin, dass mit den Instrumenten der Molekularbiologie geforscht und entwickelt wird. Erst mittels der Gensequenzierung lassen sich Medikamente entwickeln, die tatsächlich passgenau auf Patienten zugeschnitten sind. Nach wie vor ist es so, dass es in der Krebsforschung nur wenige sehr teure Blockbuster-Medikamente gibt, mit denen eine unendliche Zahl an Krebserkrankungen bekämpft wird. 

 

Die digitale Abschaffung des Krankseins

Doch nach wie vor sind die Heilungschancen einer Krebstherapie sehr bescheiden. Die Mehrzahl der Medizinexperten verspricht sich von der personalisierten Medizin deutlich bessere Heilungschancen. Ein Siegeszug der personalisierten Medizin würde für die Pharmariesen und das gesamte Gesundheitssystem jedoch bedeuten, dass mit einer komplett neuen Logik in Laboren geforscht und entwickelt wird – erhebliche Kosten und außergewöhnliche Risiken.

 

So wird allmählich eine Vision greifbar, die vor zehn Jahren noch unter science fiction lief: Nicht nur die datengestützte Diagnose und Therapien wird in der Cloud ungleich präziser und individueller. Es zeichnet sich ab, dass mögliche, beziehungsweise wahrscheinliche Krankheiten des Patienten in der Zukunft besser vorhersehbar sind. Der gute alte Begriff der Vorsorge bekommt angesichts von Maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz eine völlig neue Bedeutung. Aus personalisierter Medizin könnte so recht bald predicitve medicine werden: medizinische Vorsorge, die eine hohe Vorhersagbarkeit liefert, was Risiken für individuelle Patienten in der Zukunft angeht.

 

Digitalisierung als Gesundheits- statt als Krankenversicherung

Unsere Vorstellung von Gesundheit und damit das gesamte Gesundheitssystem könnte sich dadurch zumindest in einigen Segmenten der Gesundheitsversorgung maßgeblich verändern: Wir werden möglicherweise gar nicht mehr krank, weil Technologien an unserem Handgelenk und im Rechner unseres Vertrauensarztes als Frühwarnsysteme bereitstehen, um uns regelmäßig vor Risiken und Nebenwirkungen zu warnen. Predicitve medicine wird so zur Gesundheitsmedizin und digitalen Profilaxe, die es aufgrund unserer personalisierten Frühwarnsysteme erst gar nicht mehr zum Krankheitsfall kommen lässt. Großartig!

 

Eine solche Vision wird spätestens 2040 umsetzbar sein. Aber spätestens jetzt müssen wir uns Gedanken darüber machen, welche disruptiven Konsequenzen diese schöne, neue Welt der Abwesenheit von Krankheit hätte. Stellen wir uns nur einmal vor, unser Arbeitgeber käme ebenfalls in den Besitz unseres individuellen Gesundheits-Frühwarnsystems (was aufgrund der Niedrigschwelligkeit unserer Informationssysteme kein Problem ist). Was würde er tun? Er könnte uns beispielsweise für den Fall, dass wir doch einmal erkranken würden, zur Rechenschaft ziehen. Optimierte individuelle Gesundheit – während wir unsere Existenz als freie und unabhängige Menschen aufgeben. 

 

Trendbriefing

• Personalisierte Medizin (oder personalisierte Medizin) ist ein kommender einflussreicher Trend in der Medizin, der in höchstem Maße individuelles Therapieren und Heilen verspricht.

• Wenn personalisierte Medizin zu so etwas wie Predictive Medicine avanciert, also eine qualitativ hochwertige, digitale Prävention möglich macht und dadurch vielleicht sogar das Kranksein „unwahrscheinlich macht“, stellt sich schnell die Frage, wie individuell, perfekt und „gesund“ Medizin überhaupt sein sollte.  

• In dem Maße wie Lebenswissenschaften mit Informationstechnologien in den nächsten Jahren verschmelzen stellt sich nicht mehr nur die Frage nach mehr Gesundheit, sondern auch nach unserer Freiheit.