· 

"Bricks with pixels": Handelstrends in Zeiten von Corona

Unklar, wer sich im Onlinehandel der Zukunft durchsetzt
Unklar, wer sich im Onlinehandel der Zukunft durchsetzt

 

 

 

Als sich der Corona-Virus im März als Pandemie herausstellte, war schnell auch der Gewinner der Krise im Einzelhandel ausgemacht: Amazon und der e-Commerce. Bei genauerem Hinsehen muss das jedoch in Frage gestellt werden, wie ein Blick auf den transatlantischen Lebensmitteleinzelhandel verdeutlicht

Mit gleichem Recht könnte nämlich auch das gute, alte Handelsflaggschiff WalMart für sich in Anspruch nehmen, die Krise am besten gemeistert und für sich genutzt zu haben. Während Amazon, das bleibt unbestritten, mit einer enormen Nachfrage konfrontiert war, die schnelles Handeln und erhebliche Innovationen bedeuteten, sah sich WalMart in seinem Zukunftsprogramm bestätigt. 

 

Dem Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland zufolge stieg der Internet-Umsatz mit Lebensmitteln, Drogerieprodukten und Heimtiernahrung im ersten Quartal auf rund 1,2 Milliarden Euro und damit um 17,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bei Lebensmitteln betrug das Umsatzplus im März sogar 55,8 Prozent. Die panikartige Nachfrage nach so etwas wie „kontaktarmer Einkaufsqualität“ erreichte auch in Europa in erster Linie den klassischen Lebensmitteleinzelhandel, der mitunter erstaunlich flexibel reagierte. Laut „Lebensmittel Zeitung“ vom 29. Mai wählten sich Kunden bei einem Onlinedienstleister wie GetNow um Mitternacht ein, um ihre Bestellungen loszuwerden. Im März waren dort die Bestellfenster für drei Wochen im Voraus ausgebucht.   

 

Bringt die Corona-Katastrophe jetzt die seit Jahren herbeigesehnte digitale Revolution im Handel (und sogar bei den Lebensmitteln)?

 

Vier Trendaspekte sind hier besonders wichtig:

 

Der Angriff von Amazon auf den Lebensmitteleinzelhandel (LEH) gilt seit Jahren als beschlossene Sache, bei der es nach Expertenmeinung eigentlich nur einen Sieger geben kann, richtig: Amazon. Unbestritten ist auch, dass sich Amazon in den vergangenen Jahrzehnten eine digitale Plattform aufgebaut hat, gegenüber dem ein betuliches Unternehmen wie WalMart wie ein Waisenknabe aussieht. Der Kauf des Biohändlers Whole Foods Market durch Amazon im Jahr 2017 schien der Sargnagel für konservative Big-Box-Retailer wie WalMart zu sein. Irgendwann würde Amazon/Whole Foods Market mit dem automatisierten Supermarktformat Amazon Go verschmelzen und die US-amerikanischen (und südenglischen) Konsumenten mit günstiger Bioware überzeugen. Offiziell sind 3.000 Amazon-Go-Läden in Planung, doch offenbar ist das Konzept ist noch nicht zu Ende gedacht: in den Vereinigten Staaten zieht Whole Foods einfach nicht genügend Käufer an, weil die Preise elitär sind, und die Zahl der Amazon-Go-Läden liegt bei bescheidenen 25. Immerhin beginnt Amazon seine Technik der kassenlosen Läden an andere Unternehmen zu verkaufen. Vor einigen Wochen hat der US-Airport-Filialist OTP einen Convenience-Store der Vertriebslinie Cibo Express Gourmet Market im Flughafen Newark in Betrieb genommen. Weitere Airport-Läden sollen laut OTP in Kürze folgen, beispielsweise in New York LaGuardia. Die Firma betreibt in zehn großen US-Flughäfen insgesamt 350 Shops und Schnellrestaurants.

 

• WalMart repräsentiert mit mehr als zwei Millionen Mitarbeitern noch die alte Welt des Lebensmitteleinzelhandel (LEH), scheint aber im Moment mit „bricks with pixels“ eine neue Identität gefunden zu haben: Laut Morgan Stanley (WalMart selbst veröffentlicht dazu keine Zahlen) hat WalMart bislang 15 Milliarden US-Dollar in sein Online-Geschäft gesteckt, was im vergangenen Geschäftsjahr zu Verlusten von 1,6 Milliarden US-Dollar führte. In der Corona-Krise zeigt sich jedoch, dass WalMarts Digitalstrategie zu greifen beginnt. Doch der digitale Aufbruch bei Amerikas Lebensmittler Nummer eins ist nicht nur auf Corona zurückzuführen: Wie eine Analyse der Berater von Evercore zeigt, war bereits im Februar vor Corona zu beobachten, dass die US-Konsumenten weiter vom stationären LEH abrücken – sich aber auch gegenüber den Online-Pureplayern (also vor allem Amazon) zusehends reserviert zeigen. Die Gewinner: Etablierte Einzelhändler, die ihre Zukunft in „bricks with pixels“ sehen. Das bestätigen die Zahlen von WalMart für das erste Krisenquartal 2020: ein Umsatzzuwachs von neun Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal, mit 135 Milliarden US-Dollar Umsatz das beste Quartal der vergangenen zwei Jahrzehnte. Das geflügelte Wort „Omnichanelling“ – bei WalMart beginnt es zu greifen, gerade weil ein Angebot wie der Pickup-Kauf (nach Online-Bestellung) um 74 Prozent wuchs. 

 

• Zweite Chance für „click and collect“ in Deutschland und Frankreich: In Deutschland wurde der Onlinelebensmittelhandel ebenfalls durch Corona aus dem Dornröschenschlaf geweckt: Zwischenzeitlich betrug der Marktanteil von online bestellten Produkten zwei Prozent, in Frankreich, das deutlich härtere Quarantänebestimmungen hat, waren es sogar zehn Prozent. Die Rewe reagierte schnell und richtete deutschlandweit im April 230 zusätzliche so genannte Popup-Schalter ein (insgesamt 950), an denen Kunden ihre vorher online bestellten Produkte abholen können. „Bricks with pixels“ funktioniert also auch in Europa – und auch hier profitieren eher die „good old fellows“, die in der Krise schnell reagierten. DM, Globus und Bünting bauten ab März und April ihre Kapazitäten aus. Auch der Discounter Netto brauchte Popup-Schulter an vier ostbayerischen Standorten an den Start. Das digital-stationäre Shopping-Modell funktioniert folgendermaßen: Mitarbeiter packen die Artikel zusammen. Danach bekommen die Käufer per E-Mail oder SMS Bescheid und können sie sechs bis 24 Stunden später abholen und an der Kasse bezahlen. Einen Mindestbestellwert gibt es in der Regel nicht.  

 

• Innovativ ist momentan nicht der digitale Riese, sondern der konservative, stationäre Händler ums Eck: Was die „bricks with pixels”-Strategen aber vor allem erfreut: allmählich lassen sich die Kosten für die Pixel-Welt eingrenzen, obwohl Corona beispielsweise die Nachfrage nach „ship from store“ (im Laden bestellen, zuhause die Ware in Empfang nehmen) explodieren ließ. Mittlerweile ist das in 2.500 WalMart-Läden in den USA möglich. Und ein anspruchsvolles Pilotprogramm in 100 Läden, bei dem die Online-Bestellung innerhalb von zwei Stunden beim Kunden ankommt, bewährte sich in der Corona-Zeit, so dass WalMart das Programm umgehend auf 1.000 Läden ausdehnte. Natürlich sind auch längst Amazons Lieferdienste in den USA und Europa unterwegs, geraten aber immer mehr in die Kritik, weil sie schlicht unzuverlässig sind.

 

Fazit

Die Pandemie wird zur Bewährungsprobe für die als innovationsresistent verdächtigten Traditions-LEHs. Corona hat im US-amerikanischen LEH bislang zu keiner Wachablösung geführt. Man muss es noch deutlicher sagen: Nach wie vor hat der Digitalgigant Amazon den Schlüssel für den Lebensmitteleinzelhandel nicht gefunden. Die beeindruckende digitale Plattform, ausgestattet mit unendlicher Daten- und Vernetzungskompetenz, beißt sich gerade an dem die Zähne aus, was einem Traditionalisten wie WalMart offenbar immer besser gelingt: „bricks with pixles“. Digital-Evangelisten sind selbstredend davon überzeugt, dass wir durch Corona den Durchbruch im Lebensmittel-Onlinehandel erleben. Nachvollziehbare Gründe und belastbare Zahlen gibt es dafür bislang jedoch nicht. Die Pandemie macht das Ausweichen in den elektronischen Handel nachvollziehbar (weniger Kontakt, keine Warteschlangen, raum- und zeitunabhängige Prozesse). Dass daraus jedoch automatisch neue Gewohnheiten entstehen werden, ist keineswegs garantiert.