· 

Algorithmen könnten Krankheiten abschaffen, aber auch unsere Freiheit

Foto: fotolia.com
Foto: fotolia.com

Werden wir bald nicht mehr krank sein? Stehen wir vor einem Durchbruch bei der Bekämpfung von chronischen Krankheiten, die sich – bedingt durch unseren saturierten Lebenswandel – in unseren Alltag einschleichen und zu Millionen Todesfällen führen?

 

Wir kennen die Silicon-Valley-Mentalität mit ihrem gelebten Größenwahn und der Lust am Aufknacken von festgeschriebenen Marktgesetzlichkeiten. Und wir wissen, dass die 2020er-Jahre davon geprägt sein werden, dass Informations- und Gesundheitswissenschaften miteinander verschmelzen werden.

 

In den USA ist 2017 die erste Gesundheits-App mit Medikamentenstatus zugelassen worden. Der in San Francisco und Boston ansässige App-Entwickler Pear Therapeutics hat mit reSET eine App entwickelt, die sich auf die ambulante Therapie gegen Rückfälle durch Kokain, Stimulanzien, Alkohol und Marihuana konzentriert. Studien belegen die Wirksamkeit des digitalen Medikaments, das über den Schweizer Pharmagiganten Novartis vertrieben wird.

 

Angesichts der Innovationsgeschwindigkeit speziell in der Künstlichen Intelligenz auf dem Gesundheitsmarkt müssen wir davon ausgehen, dass bald Daten und Algorithmen jede Faser unseres Körpers durchleuchten und seine vielfältigen Funktionen in Realzeit überwachen werden.

 

Anhand von Daten könnten uns medizinische Anbieter jederzeit über Gefahren und Gesundheitsrisiken informieren. Sie könnten aber auch unsere Krankenversicherung oder unseren Arbeitgeber darüber in Kenntnis setzen, was wir gerade essen. Spätestens dann würden wir uns wahrscheinlich sehr genau überlegen, ob wir nach Lustprinzip schlemmen – und dabei unseren Job riskieren, denn wir haben unserem Arbeitgeber ja versprochen, stets auf unsere Gesundheit zu achten.

Dr. Google möchte die Krankheiten abschaffen

In dem Maße, wie wir anhand von präzisen Daten sekündlich Erkenntnisse über den körperlichen Zustand eines Menschen evaluieren können, können wir ihn auch vor Krankheiten und ungesundem Lebenswandel schützen. Smart Watches und Smartphones sind kleine Lebensstil-Diktatoren, die uns sagen, was gesund oder ungesund für uns ist.

 

Doch laufen wir durch einen solchen Kurzschluss von Leib und Algorithmus nicht Gefahr, die Kontrolle über unseren Körper zu verlieren? Verkaufen wir unsere Persönlichkeit über solche „Digital Therapeutics“, „Predictive Medicine“ (Prävention durch digitale Überwachung) und unzählige Fitness- und Abnehm-Apps nicht endgültig an Big Tech, an gefährlich souveräne „Net-States“, die uns zu Biosklaven machen?

 

Liegt hierin vielleicht sogar eine der größten Freiheitsgefahren für unser Leben im 21. Jahrhundert?

 

Das globale Wettrennen um die Gesundheit der Zukunft ist in vollem Gange. Die „Net-States“ Google, Facebook, Alibaba, Amazon und Apple, Digitalplattformen, die mittlerweile mehr Einfluss auf den einzelnen ausüben als der Staat, möchten ab sofort auch unsere Gesundheitsversorgung organisieren.

 

Google hat gleich einmal die Spielräume über die Grenzen des Legalen hinaus ausgetestet, als der Konzern sich im vergangenen Jahr die Gesundheitsdaten von Millionen von Patienten unter den Nagel riss. Die Daten wurden von der US-Gesundheitsorganisation Ascension bereitgestellt – doch weder die betroffenen Patienten, noch die behandelnden Ärzte gaben für die Weitergabe ihr Einverständnis.

 

Google arbeitet mit Ascension an Lösungen („Project Nightingale“), um mittels Künstlicher Intelligenz elektronische Gesundheitsakten automatisiert zu verarbeiten und Krankheiten dadurch früher identifizieren zu können.

 

Garantierte Gesundheit durch digitale Körperkontrolle aus Mountain View? Garantierte Gesundheit im Tausch gegen personale Identität? Von der praktischen Selbstoptimierungshilfe zur Verhaltenskontrolle zur totalitären Überwachung? Das ist sicherlich zu paranoid gedacht. Doch in den kommenden Jahren werden wir genau hinschauen müssen, ob so etwas wie „Digital Therapeutics“ (aktuell das Next Big Thing bei Investoren) tatsächlich den teuren und mit Nebenwirkungen behafteten Pharmamarkt ersetzen kann.

Apple sieht in der Gesundheit seine Zukunft

Und dafür brauchen wir international integre und handlungsfähige Institutionen, mit deren Hilfe wir Datensouveränität herstellen können. Die Zeit drängt. Denn es ist absehbar, dass in den kommenden zehn Jahren auch unser Körper zum Schauplatz einer Datenrevolution durch vorgeblich gesundheitsfördernde Algorithmen werden wird. Längst lassen sich Krebsarten wie Haut- und Brustkrebs mittels Künstlicher Intelligenz zuverlässiger erkennen als durch die renommiertesten Experten.

 

Was Apples, Googles und Amazons Aufbruch in die Gesundheit so bedenklich macht, ist ihre Datenallmacht. Zweifellos hat die digitale Prävention aber auch Vorzüge – für Patienten, die Forschung und natürlich auch für Big Tech.

 

Ende des vergangenen Jahres hat Apple-Chef Tim Cook festgestellt, dass Gesundheit dasjenige Gebiet sein wird, auf dem Apple den größten Beitrag für die Zukunft der Menschheit leisten werde. Und er hat mit Apples „Research Kit“ gleich einmal angedeutet, dass das reichste Unternehmen der Welt wild entschlossen ist, auf dem Gesundheitssektor mit disruptiven Initiativen aufzuwarten.

 

Wer wie Apple über seine Apps unfassbar viele und ziemlich präzise persönliche Daten erzeugen kann, der könnte beispielsweise auch die Evidenzbasis von medizinischen Studien auf bahnbrechende Weise verbessern. Davon gehen längst auch exzellente Forschungsinstitute wie die Stanford Medicine University aus, die mit Apple-Daten bessere medizinische Forschung betreiben wollen und das bereits auch tun.

 

Für eine Herzstudie erklärten sich 400.000 Apple-Watch-Nutzer bereit, ihre Daten zur Verfügung zu stellen. In einer kürzlich gestarteten Untersuchung zur Frauengesundheit gehen die beteiligten Harvard-Forscher davon aus, dass sie über zehn Jahre Daten von mehr als zehn Millionen Nutzerinnen von Apple-Watch-Geräten auswerten können.

 

Über Apple-Watches, so die Hoffnung der Mediziner, lassen sich endlich repräsentative Daten erheben. Bislang krankten US-Frauenstudien häufig daran, dass überwiegend weiße Frauen befragt wurden, weil vor allem sie regelmäßige medizinische Versorgung in Anspruch nehmen.

 

Apple fragt seine Nutzer, ob sie Daten zur Verfügung stellen möchten, Google tut das nicht. Das neue Geschäftsmodell auf dem Gesundheitssektor könnte folglich so aussehen: Der Nutzer stellt freiwillig seine Daten zur Verfügung, die Forscher entwickeln bessere Medikamente und Big Tech kreiert neue aufregende Geräte und Services, die die treuen Kunden verzücken.

Der Weg zu neuer Datensouveränität

Der Haken: Facebook, Amazon und Google demonstrieren nahezu jeden Tag, dass sie von solcher Datendemokratie nichts halten. Wir brauchen also unbedingt öffentliche Institutionen und vonseiten Dritter geförderte Projekte, die an dem Punkt zwischen Datensouveränität und persönlicher Integrität ansetzen. Drei Beispiele, die zeigen, dass das gelingen kann:

  1. Die 2015 gegründete Nonprofit-Genossenschaft www.midata.coop betreibt eine Datenplattform und agiert als Treuhänderin der Datensammlung. Mithilfe von midata lassen sich alle persönlichen Gesundheitsdaten an einem sicheren Ort verwahren. Von hier aus können die Nutzer selbstständig entscheiden, welche Daten sie mit Ärzten, Institutionen oder Familienmitgliedern teilen wollen und ob sie diese womöglich zu Forschungszwecken zur Verfügung stellen wollen.
  2. Legalen Zugang zu öffentlichen Daten zu haben macht es auch möglich, neue Serviceangebote – und an den Algorithmen von Big Tech vorbei – zu entwickeln. Auf der Basis öffentlich zugänglicher Daten werden beispielsweise in Boston nichtgenutzte Wohnungen und Stellflächen identifiziert und Busse schneller ans Ziel gebracht. In New York, London und Barcelona werden Datenanalyseabteilungen eingerichtet, die bei unterschiedlichen Verkehrsthemen eingesetzt werden, aber auch für gesundheitlichen Notfälle wie Terroranschläge und Seuchen nützlich sein können. Diese Daten in Besitz der Städte tragen aktuell beispielsweise dazu bei, dass Sharing-Anbieter wie Airbnb und Uber vernünftig reguliert (und besteuert) werden können.
  3. Die EU investiert 60 Millionen Euro innerhalb seines Horizon-2020-Programms, um digitale Maßnahmen zu fördern, die Gesundheit und Wohlbefinden der Bürger fördern sollen („Blockchain for Social Good“). Dabei wurden mehr als 2.000 Initiativen gefördert, von sozialen Netzwerken für chronisch Kranke (Cancer Research UK, www.scistarter.org) bis zur Citizen-Science-Plattform Cellslider (www.cellslider.net).

Damit nach dem Hype um die digitale Selbstoptimierung nicht der Selbstverlust und die digitale Leibeigenschaft droht, sollten wir weniger daran arbeiten, das Kranksein abzuschaffen und uns vielmehr für die Datensouveränität des Einzelnen einsetzen.

Über den Autor: Dr. Eike Wenzel gilt als einer der renommiertesten deutschen Trend- und Zukunftsforscher. Er ist Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung (ITZ) und Leiter des Studiengangs „Trend- und Nachhaltigkeitsmanagement“

 

Dieser Artikel von Eike Wenzel ist am 10. Februar 2020 als Kolumne im Handelsblatt erschienen.