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2020er Jahre: Sechs Trends für das neue Jahrzehnt

Klimawandel ist nicht von sozialer Ungleichheit zu trennen, Ökologie funktioniert nicht ohne technologische Modernisierung. Wir brauchen offene Bildungssysteme und einen Neustart unserer Öffentlichkeit. Eine anspruchsvolle Zukunftsagenda für die 2020er-Jahre.

 

Diese Großanstrengung kann nur von Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam bewältigt werden. Für jeden Bürger des 21. Jahrhunderts muss erkennbar werden, dass er ein aktiver Teil dieses Prozesses ist, dass er seine eigenen Fähigkeiten einbringen kann und dass ihm dadurch Zukunftschancen zuwachsen, die vielen in der neoliberalen Ära der 1990er- und 2000er-Jahre, wie wir mittlerweile wissen, nicht eröffnet wurden.

 

Von vielen wird diese Transformation als „Green New Deal“, „Global Green New Deal“ oder einfach „Green Deal“ bezeichnet. Der Green Deal muss ein sozial-ökologisches Erneuerungsprogramm für die gesamte Gesellschaft sein. Er muss für einen sozialen, ökonomischen und ökologischen Umbau sorgen. 

 

Deswegen müssen wir bei einem solchen Fahrplan auch über Identitäten und Zukunftstechnologien reden, über neue Bildung und alternative Wertschöpfung, über global vernetzte ebenso wie lokal geerdete Zukünfte und gemeinwohlorientierte Medienplattformen.

Was sind die wichtigsten Koordinaten auf dem Weg dorthin? Sechs Trends, die in den 20er-Jahren Wirtschaft und Gesellschaft entscheidend prägen werden:

Trend 1: Richtungsloses Wachstum aufgeben

Wir müssen die Systemgrenzen unseres Ökosystems akzeptieren, aber aus den Limitierungen kreative Funken schlagen – und nicht mehr das technologisch Mögliche aus Profitgier blind exekutieren.

 

Fortschritt ist künftig das, was die Umstellung der Industrie auf eine kohlenstofffreie Ökonomie beschleunigt. Innovativ ist das, was dabei hilft, CO2 zu mindern. Wachstumsrelevant ist nur noch das, was innerhalb der ökologischen Grenzen des Planeten sinnvoll ist. (Technologische) Modernisierung wird damit nicht ausgebremst, sondern aufgefordert, eine neue Ebene der Kreativität zu betreten. Damit ändert sich, was wir bislang unter Fortschritt und Moderne verstanden haben, radikal.

 

Sieht man gerade aufgekratzte FDPler auf Werbezetteln, die die „Erfindung der Wasserstoffgesellschaft“ verkünden, schwant einem, dass hier eine abgehängte Partei wieder in die Welt des 20. Jahrhunderts zurück möchte. Eine Schlüsselenergie, die man aus dem Hut zaubert und die ein neues Zeitalter (des richtungslosen Wachstums) begründen soll? Schief (und erschütternd unzeitgemäß) ist daran die Hoffnung auf einen Wunderstoff, der Öl und Kohle im Handumdrehen ersetzt. 

 

Populistisch ist die Suggestion, dass strukturell alles beim Alten bleiben kann und wir nur eine neue Technologie vor den alten (Auto-)Karren spannen müssen. Ernst zu nehmende Ansätze für die nachhaltig-alternative Bemessung von Wohlstand und nachhaltiger Wertschöpfung haben dagegen in Neuseeland, Schottland oder Island die Elfenbeintürme der Forschung verlassen. Tenor: Nichts bleibt in den 20er-Jahren so, wie es ist, das birgt jedoch auch große Chancen.

Trend 2: Den Populismus besiegen

Identitätskonzepte für die 20er-Jahre dürfen sich nicht rückwärtsgewandt in einem idealisierten Gestern einrichten. Sie müssen mit neuen Jobs auf neuen Technologiefeldern verknüpft werden. Für die vom Neoliberalismus Enttäuschten muss deshalb die Botschaft für die 20er-Jahre lauten: Sei Teil eines epochalen Veränderungsprojekts, bei dem keine Ideologie, sondern der Mut zu Neuem dominiert.

 

Die Erfolgsstrategie der Rechtspopulisten besteht darin, aus den Demütigungen und Enttäuschungen der neoliberalen Ära der 1990er- und 2000er-Jahre politisches und kulturelles Kapital geschlagen zu haben. Der global von Trump über Orbán und Erdogan bis zu Bolsonaro instrumentalisierte Zorn der von der Weltgesellschaft Abgehängten und Gedemütigten lässt sich durch die Ausrichtung auf einen Green New Deal wirksam bekämpfen.

 

Teilhabe an einer ökonomisch-ökologischen Transformation, die ideologiefrei das tut, was zur Bekämpfung der Klimakrise notwendig ist, hat die Kraft, Zukunftshorizonte für die Verlierer des Zeitalters der Marktgläubigkeit zu eröffnen.

 

Wind- und Sonnenenergie liefern solche Horizonte: Die Kosten für Sonnenenergie werden bis 2024 um weitere 15 bis 35 Prozent sinken, was in der zweiten Hälfte des neuen Jahrzehnts zu einem weiteren dynamischen Wachstum führen dürfte. Und bei einem stärkeren Ausbau der Stromerzeugung aus Photovoltaik werden bis 2040 aus Branchensicht in Deutschland rund 50.000 neue Jobs entstehen. Das geht aus einer Studie der Marktforschungsfirma EuPD Research Sustainable Management hervor.

 

Dem letzten neoliberalen Marktgläubigen müsste die Notwendigkeit einer grünen Finanzwende einzuleuchten beginnen, wenn sich eine Bank wie Goldman Sachs auf die Seite der Investoren für Klimaschutz und erneuerbare Energien schlägt und 750 Milliarden US-Dollar in nachhaltige Projekte steckt. Denn Ende der 2020er-Jahre könnte es endgültig vorbei sein mit Öl und Kohle. 

 

Den mittlerweile krisenerprobten Banken dämmert: Wenn das zutrifft (bedingt durch die enorme Vergünstigung des regenerativen Stroms), werden Investoren in fossile Brennstoffe auf Billionen von Schrott-Assets sitzen bleiben. Eine Kohlenstoffblase, die der Kreditblase von 2008 in nichts nachsteht.

 

Laut Michael Liebreich, Gründer von Bloomberg New Energy Finance (BNEF), erreichen die Erneuerbaren früh in den 20er-Jahren einen Tipping Point: Das erste Prozent am Weltmarkt dauert ewig, so Liebreich, fünf Prozent Marktanteil sind wie das Warten auf einen Nieser – unausweichlich, aber es dauert (in dieser Phase befanden sich die Erneuerbaren in den 2010er-Jahren). Die Phase zwischen fünf und fünfzig Prozent geht dann rasend schnell.

 

39 Prozent aller Arbeitsplätze in den erneuerbaren Energien befinden sich in China (4,07 Millionen). Weltweit gibt es mittlerweile elf Millionen Jobs in den Erneuerbaren. Das ist großartig. Für den Green New Deal brauchen wir noch deutlich mehr. Mit der von Solar und Wind getragenen Energiewende verbinden wir auch einen grundlegenden Wandel im Management von Ressourcen und Wertbeständen.

 

So entstehen durch die atemberaubende Erfolgsgeschichte von Wind und Solar auch neuindustrielle Arbeitswelten, in denen unter anderem deutlich mehr Frauen Beschäftigung in zeitgemäßen Technologie- und Wachstumsbranchen finden. 32 Prozent beträgt der weltweite Frauenanteil bei den Jobs in den erneuerbaren Energien.

Trend 3: Eine zweite Chance für die Globalisierung

In den 20ern müssen wir an einem zustimmungsfähigen Globalisierungsnarrativ arbeiten. Ein Green New Deal braucht ein klares Bekenntnis zur Globalisierung, denn nur durch die transnationale Vernetzung von Daten, Plattformen und Technologien werden wir ein existenziell bedrohliches Phänomen wie den Klimawandel in den Griff bekommen.

 

Globalisierungsskeptiker seien daran erinnert, dass die Überfremdungsnarrative der Rechtspopulisten noch nie die Zustimmung der Massen fanden. Die Kultur der sogenannten heimatverbundenen „Somewheres“ (David Goodhart), wie die Rechtspopulisten ihre Erzählung vom Globalisierungsverlierer aus der Mittelschicht etikettieren, hat es nie gegeben.

 

Bereits vor 1945 gab es in Deutschland chinesische und japanische Restaurants und italienische Eisdielen. Und in der Nachkriegskultur der einfachen Schichten stand nicht nationales Volksgut, sondern Rock and Roll und afroamerikanische Musik im Vordergrund. In der Mobilität dieser von den Populisten nationalistisch verbrämten Nachkriegszeit spielte die Erkundung fremder Länder (Italien, Mallorca) eine viel größere Rolle als altgermanisches Liedgut.

 

Eng begrenzte nationale Identitäten waren also schon im 20. Jahrhundert eine Erfindung konservativer Eliten. Und zukunftsfähige Identitäten für die kommenden Jahre werden sich ebenfalls nur auf transnationaler Ebene als produktiv erweisen. Nur im internationalen Maßstab ist ein Green New Deal, sind Energiewende und wirkungsvolle Maßnahmen gegen den Klimawandel umsetzbar.

 

Dem sturmerprobten und resilienten Netzwerk der EU kommt dabei durchaus Vorbildcharakter zu, nicht zuletzt, weil dort 2007 das transnationale Projekt der Energiewende auf den Weg gebracht wurde.

Trend 4: Bildung als Schlüsselressource der 20er-Jahre

Bildung ist das beste Immunsystem gegen soziale Ungleichheit. Bildung muss für alle Menschen ein frei zugängliches Gut sein, denn mit jedem weiteren Jahr, das Kinder in der Schule verbringen, sinkt ihr Armutsrisiko.

 

Ein Staat wie Estland landet bei Bildungstests immer auf den vorderen Plätzen. Die Regierung des kleinen Landes hat verstanden, dass Bildung (und schulische Betreuung inklusive Verpflegung) für sozial schwache Familien nichts kosten darf. Stehen umgekehrt gute Bildungsangebote nur den Reichen zur Verfügung, nimmt soziale Aufwärtsmobilität ab – eine Gesellschaft (wie unsere westliche in den vergangenen 20 Jahren) zementiert so den Status quo und verhindert Innovationen.   

 

Fraglos ist gute Bildung teuer, aber mit guter Bildung, die für jeden zugänglich ist, vermeiden wir das Entstehen von Ungleichheit an der Wurzel. Sozial schwache Familien können für Bildung nicht selbst aufkommen. Das gilt für Deutschland ebenso wie für ein Land wie Kolumbien.

 

Dort kostet die schulische Ausbildung eines Kindes das Dreifache des Durchschnittseinkommens sozial schwacher Familien. Trotzdem investiert das Land verstärkt in Bildung, weil verstanden wurde, dass Bildung das beste Mittel ist, um Armutsrisiken zu minimieren. Laut Unesco steigt mit jedem weiteren Schuljahr, das ein Kind absolviert, sein späteres Einkommen um zehn Prozent.

Trend 5: Städte entscheiden den Kampf ums Klima

Die wichtigsten Entscheidungen für die Bekämpfung von CO2-Emissionen werden nicht auf staatlicher Ebene, sondern vor Ort getroffen, von Bürgermeistern, Gouverneuren und Unternehmenslenkern.

 

Neben der Internationalisierung der Energie-, Mobilitäts- und Wärmewende brauchen wir eine ebenso entschlossene Lokalisierung des postfossilen Paradigmenwandels. Wirkungsvolle Maßnahmen gegen den Klimawandel müssen dort in die Wege geleitet werden, wo Menschen täglich leben.

 

Das ist eine große Chance für die Energie-, Mobilitäts- und Wärmewende, denn vor Ort kann den Bürgern im eigenen Alltag „spürbar“ gemacht werden, dass die Transformation möglich ist und dass sie auch positive Veränderungsimpulse für die eigene Lebensgestaltung eröffnet. Ausgerechnet aus dem Trump-Amerika kommen ermutigende Initiativen. Kurz nachdem der US-Präsident den Abschied vom Pariser Klimaabkommen bekanntgab, traten landesweit 3.500 Städte, Kommunen und Hochschulen dem Pariser Abkommen bei („We are still in“).

 

„We are still in“ war auch das Vorbild für den „Pakt der freien Städte“, in dem sich die osteuropäischen Metropolen Budapest, Prag, Warschau und Bratislava zusammengeschlossen haben, um für Klimaschutz und Weltoffenheit einzutreten. Rafal Trzaskowski, Bürgermeister von Warschau, erklärt: „Wir sind den Menschen nahe, näher als unsere Regierungen, und wir wollen unsere Initiativen auf Erkenntnisse stützen, nicht auf Ideologien.“

 

Dass die Energiewende nicht aufzuhalten ist, zeigt sich auch an diesem Paradox: Neun von zehn US-Staaten mit der meisten installierten Windkraft sind Staaten, in denen mehrheitlich klimaskeptische Republikaner gewählt werden. Wie kommt es dazu? Städte und Kommunen handeln vernunftgeleitet. Lokale Zukunftspolitik muss vor dem Wähler vor Ort bestehen und tut das, was rational und notwendig ist.

Trend 6: Neuaufbau der politischen Öffentlichkeit

Ohne eine rational zurechnungsfähige Öffentlichkeit ist Demokratie im 21. Jahrhundert nicht überlebensfähig. Ohne demokratische Öffentlichkeit fehlt uns die Informations- und Diskussionsgrundlage für zukunftswichtige Entscheidungen. Deshalb sind brauchbare Alternativen zu Facebook und Google nicht Ausdruck von Antiamerikanismus oder Kulturpessimismus – sie stellen eine notwendige Bedingung für die sozial-ökologische Transformation dar.

 

Während Facebook und Google Daten generieren, um weitere Daten zu generieren, was zu einer „radikalen Indifferenz“ der kommerziellen Plattformen gegenüber Werten und moralischen Grundlagen geführt hat, brauchen wir Plattformen, auf denen Informationen nachvollziehbar zur Verfügung gestellt und genutzt werden können.

 

In dem Maße, wie Facebook und Google an Affekte und dumpfes Gruppenverhalten appellieren, brauchen wir gemeinwohlorientierte Plattformen, die unsere Welt erklären und zustimmungsfähige Zukünfte entstehen lassen. Statt der Stimulation von niederen Instinkten müssen publizistische Plattformen in den 20ern die Teilhabe der Bürger an demokratischen Entscheidungsprozessen stärken.

 

Metropolen wie SeoulToronto, Amsterdam oder Barcelona liefern hier wichtige Ansätze, indem darauf geachtet wird, dass Bürger selbst darüber entscheiden können, ob sie ihre Daten zur Verfügung stellen.

 

Die Social Media haben die fatale Entwicklung von Fake-News-Kampagnen erst möglich gemacht. Technologieplattformen sind keine politisch unschuldigen Kanäle. Eine für das 21. Jahrhundert zeitgemäße Informationsinfrastruktur sollte konträr dazu der öffentlich-rechtlichen Idee folgend (aber keineswegs den bequemen öffentlich-rechtlichen Status quo zementierend) aufgebaut werden. Solche Plattformen müssen selbstredend auch private Inhalteanbieter ansprechen (und Medien wie Zeitungen und Zeitschriften mit offenen Armen begrüßen).

 

Da ohnehin alle Medien an Multichannel-Strukturen arbeiten, sollte die öffentlich-rechtliche Finanzierung vor allem auch junge Internetprojekte, Blogger und Podcaster fördern. Wie die Qualität solcher Plattformen garantiert werden kann, dafür liefert die Medienqualität Schweiz Anhaltspunkte.


Über den Autor: Dr. Eike Wenzel gilt als einer der renommiertesten deutschen Trend- und Zukunftsforscher. Er ist Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung (ITZ) und Leiter des Studiengangs „Trend- und Nachhaltigkeitsmanagement“

Dieser Artikel ist am 14. Januar 2020 als Kolumne von Eike Wenzel im Handelsblatt erschienen.