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Sechs unbequeme Wahrheiten und Trends, die uns in den kommenden Jahren begleiten werden

Welche Trends werden das kommende Jahr prägen? Unbestritten müssen wir vom Klimawandel, der Automatisierung des Arbeitsmarktes und der nach wie vor schwelenden Finanzkrise als den großen Risikoszenarien der kommenden Jahre sprechen.

 

Gleichzeitig tauchen mit hochbrisanten Technologien wie maschinellem Lernen, neuronalen Netzwerken, Gentechnologie, Blockchain, 3D-Druck, Biometrie und anderem mehr Werkzeuge am Horizont auf, die es möglich machen, die Welt in kurzer Zeit zu verändern.

 

Allerdings werden diese neuen Technologien in den kommenden Jahren nicht mehr nur die Aufgabe haben, aggressiv neue Märkte zu kreieren und Nutzergruppen zu erschließen. Nein, sie werden Antworten auf die Frage geben müssen, wie ein neues Fortschritts-Narrativ – geprägt von eben diesen Technologien – in einer demokratischen Weltgesellschaft umwelt- und sozialverträglich umgesetzt werden kann.

 

Was auf dem Spiel steht, ist nicht wenig: Dasjenige Gesellschaftssystem, das diese Erzählung von einer guten Zukunft in den nächsten Jahren mit der größten Überzeugungskraft den Menschen in der globalisierten Welt nahebringt, wird zu den Gewinnern der Geschichte des 21. Jahrhunderts gehören.

 

Aber dorthin werden wir nur kommen, wenn wir vorher – auch wenn es wehtut – einen Realitätsabgleich machen. Sechs unbequeme Wahrheiten und Trends werden uns im kommenden Jahr auf dem Weg zu diesem Ziel begleiten:

 

1. Marktgläubigkeit löst keine Probleme, Geld mit Geld zu verdienen schafft nur neue

 

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich der globale Kapitalismus spätestens in den 1990er-Jahren als neoliberale Weltordnung im Sinne eines ideologischen Verblendungssystems in den westlichen Gesellschaften etabliert hat. Wachstum sollte keine Grenzen mehr kennen, und viele Finanzmarktspezialisten an den Schalthebeln der Macht verführte das dazu, große Teile der Realität auszublenden. Die Märkte würden es schon irgendwie richten.

 

Eine Aussage von Ex-Fed-Chef Allen Greenspan aus dem Jahr 2007 rückt aus heutiger Sicht die Marktgläubigkeit des Westens in ein fragwürdiges Licht: „Wir haben das Glück, dass politische Beschlüsse in den USA dank der Globalisierung größtenteils durch die weltweite Marktentwicklung ersetzt wurden. Mit Ausnahme des Themas der globalen Sicherheitspolitik spielt es kaum noch eine Rolle, wer der nächste Präsident wird. Die Welt wird durch Marktkräfte regiert.“

 

Welch ein fataler Irrtum, welch wachstumstrunkene Realitätsverleugnung. Die USA werden heute bekanntlich von Donald Trump regiert, und der ist ein eher tragisches Sinnbild für die Exzesse und Irrwege einer obszönen Marktgläubigkeit. Und was ist wirklich absurder: negative Zinsen oder Trumps präpotenter Protektionismus? Beides sind bizarre Reaktionen auf die Kontrollverluste eines globalen Finanzmarktes.

 

Aus heutiger Sicht liest sich Greenspans Ausspruch wie das Delirieren eines von fundamentalistischen „Alternativinformationen“ verstrahlten Gotteskriegers. Die 15-jährige Greta Thunberg aus Schweden ist für mich die Persönlichkeit des Jahres. In der vergangenen Woche auf dem Klimagipfel in Kattowitz brachte sie das Versagen einer marktgläubigen Gesellschaft auf den Punkt: „Wenn Lösungen in diesem System so schwer zu finden sind, dann müssen wir vielleicht das System ändern.“

 

Welche Trends führen uns in die Richtung eines neuen Systems?

 

2. Alternative Akteure und konkretes Handeln werden sich als Zukunftsdividende auszahlen

 

Wir wissen, dass der Klimawandel die größte Herausforderung der kommenden Jahrzehnte ist. Doch wir werden 2019 noch den größten Schock erleben. Wir haben schlicht keine andere Wahl mehr, als die globale Wertschöpfung und unsere Lebensstile danach auszurichten. Unsere fundamentalen Lebensgrundlagen stehen auf dem Spiel.

 

2019 muss deshalb das Jahr werden, in dem endlich Aktionsszenarien (statt Umweltkonferenzen) in den Vordergrund rücken. Gelingt uns das und beginnen wir endlich, Maßnahmen gegen Überschwemmungen, Extremwetter und nachfolgende Gesundheitsrisiken zu ergreifen, könnte dies das Bruttoinlandsprodukt der G20-Staaten bis 2050 um ordentliche 4,7 Prozent erhöhen.

 

Greta Thunberg, meine Persönlichkeit des Jahres, hat recht, wenn sie bemängelt, dass viele jetzt mit einem grüngewaschenen Turbokapitalismus zu den alten Methoden der Profitmaximierung zurückkehren wollen („... mit den immer gleichen schlechten Ideen weiterzumachen, die uns erst in diese Situation geführt haben.“). Wir brauchen jedoch zumindest minimales Wachstum in die richtige Richtung, um überhaupt Innovationen finanzieren zu können.

 

Wir müssen schnell liefern. Und Transformationen, wie sie uns bevorstehen, profitieren immer von neuen Akteuren und Institutionen. Gerade beim Thema Klimawandel sitzt der Frust über „No-action“-Szenarios auf weltpolitischer Ebene tief. Eine Initiative wie die C40 Cities Climate Leadership Group hat beispielsweise die entscheidende Bedeutung der Metropolen für die kommenden Jahre erkannt und versammelt Akteure, die quer zur internationalen Klimadiplomatie auf lokaler Ebene innovative Wege gehen.

 

Die Art und Weise, wie wir in den nächsten Jahrzehnten das Leben in den Städten neu organisieren, ist entscheidend dafür, ob wir die Klimakrise in den Griff bekommen oder nicht.

 

3. Die Energiewende bleibt ein verlässliches Wachstums- und Beschäftigungsprogramm

 

Der mit Hochgeschwindigkeit voranschreitende Klimawandel lässt sich mittlerweile als ökonomisches Desaster und Wohlstandsgefahr nicht nur beschreiben, sondern auch beziffern. Der vergangene Sommer hat den Klimawandel mit Vehemenz schließlich auch im Bewusstsein der westlichen Welt verankert. Ernteverluste in Europa von bis zu 50 Prozent verlangen radikale Lösungen – vom klimaresistenten Saatgut bis zur CO2-Steuer.

 

Selbst der Einfluss des Klimawandels auf Flüchtlingsströme ist seit längerer Zeit nachweisbar. Eine extreme Dürre zwischen 2006 und 2010 hat den Ausbruch des Syrien-Krieges zumindest mit beeinflusst. Es ist klar absehbar, dass Dürren und Versorgungsengpässe infolge des Klimawandels vor allem Schwellenländer treffen werden. Migrationswellen, die sich nicht zuletzt aus Klimagründen in Bewegung setzen, werden die Folge sein.

 

Doch Ökokrise und Klimawandel werden 2019 die Motoren einer alternativen Wachstumsökonomie sein. Schon jetzt werden im EU-Raum mehr Arbeitsplätze mit Umwelttechniken als auf anderen Gebieten geschaffen. In der EU wurden zwischen 2012 und 2015 insgesamt 71 Milliarden Euro durch den Export von sauberen Technologien umgesetzt.

 

Erfreulicherweise wird schon jetzt mehr in erneuerbare als in fossile Energien investiert. Arbeitsplätze, die durch Automatisierung wegfallen, haben gute Aussichten, durch Clean Tech ersetzt zu werden.

 

Zukunftsmärkte für erneuerbare Energien gibt es darüber hinaus genug. In Afrika sind die geografischen und klimatischen Voraussetzungen für regenerative Energien ideal. Und nach wie vor leben auf dem Kontinent 650 Millionen Menschen ohne Strom. Sie werden Strom bekommen, wichtiger ist jedoch, dass sie eine ökoeffiziente Stromversorgung erhalten.

 

4. Zehn Milliarden Ärzte für zehn Milliarden Menschen?

 

Das Zusammentreffen von Informationstechnologie und Biotechnologie erweckt die Angst vor programmierbaren Individuen. Zugleich verspricht es, den Gesundheitssektor ungleich effizienter und patientenzentrierter zu machen. Der israelische Historiker Yuval Harari warnt nachdrücklich vor der transformierenden Kraft einer Künstlichen Intelligenz (KI), die sich anschickt, mittels Sensoren zum Bioengineering zu werden.

 

In kaum einer anderen Branche werden Digitalisierung und KI in den nächsten Jahren so bahnbrechend wirken wie in der Medizin und im Gesundheitssektor. Auch der kluge Skeptiker Harari ist fasziniert von den Möglichkeiten. Wenn Technologie irgendwann medizinische Fortschritte durch kluge Datennutzung und Algorithmen in Realzeit umwandelt, so Harari, könnte jedes Smartphone (das seinen Nutzer intim „kennt“) ein besserer Arzt sein als einer aus Fleisch und Blut.

 

Im Jahr 2050 stünden dann vielleicht zehn Milliarden hochpersonalisierte KI-Ärzte für zehn Milliarden Erdenbewohner bereit. Vergessen wir dabei nicht den gesellschaftlich-emanzipativen Effekt: Auf der Basis von Vernetzung und Künstlicher Intelligenz hätte in einigen Jahren ein Beduine in der Sahara eine deutlich bessere Gesundheitsversorgung als der einflussreichste Milliardär heute.

 

5. Der karnivore Lebensstil stößt an Grenzen

 

Fasste man alle momentan auf der Welt lebenden Rinder zu einem Staat zusammen, würde dieser, was den Ausstoß von CO2 angeht, auf Platz drei rangieren. Da wir im kommenden Jahr noch stärker darauf gestoßen werden, dass alles mit allem zusammenhängt, müssen wir uns auch vor Augen führen, dass es unsere Lebens- und Genussgewohnheiten sind, die diesen klimapolitischen Schurkenstaat gezüchtet haben. Laut Schätzungen der Welternährungsorganisation der Uno verursacht die Massentierhaltung mit 14,5 Prozent so viele Treibhausgasemissionen wie der globale Verkehr.

 

Der karnivore Lebensstil ausnahmslos aller Wohlstandsnationen bietet umgekehrt jedoch auch Chancen zur Veränderung. China fährt große Aufklärungskampagnen mit Arnold Schwarzenegger, um die Bevölkerung von ihrer neureichen Fleischbesessenheit abzubringen. Bereits seit Ende der 2000er-Jahre konsumieren die Chinesen mehr Proteine als die Burger-Nation USA. Dort sind pflanzliche Alternativen zu Milchprodukten mittlerweile ein Wachstumssegment.

 

Selbst ein Lebensmittel-Großdealer wie Walmart wirbt mit veganen Milchprodukten. Hafermilch findet erstaunlich schnelle Akzeptanz. Der Weltmarkt der pflanzenbasierten Milchalternativen ist zwischen 2010 und 2018 von 7,4 Milliarden US-Dollar auf 16,3 Milliarden angewachsen. In den westlichen Gesellschaften wird so wenig Kuhmilch getrunken wie noch nie.

 

In deutschen Supermärkten können wir mittlerweile zwischen mehr als 30 Ersatzgetränken für die gute alte Milch wählen. Wir werden dadurch keine Gesellschaft von Vegetariern, aber die Verbraucher in der westlichen Wohlstandswelt signalisieren deutlich, dass sie veränderungsbereit sind.

 

6. Transport-as-a-System löst die Autogesellschaft ab

 

Es wird uns keine Mobilitätswende gelingen, wenn wir dabei nur auf den Elektroantrieb setzen. Auch hier ist Gretas Forderung eines mutigen Systemwechsels angebracht. Bei der Transformation der Mobilität sind neben Diensten wie Carsharing vor allem die Daten der selbstfahrenden Mobilität ermutigend. Heute kommen rund 1,25 Millionen Menschen pro Jahr bei Verkehrsunfällen ums Leben. Der Umstieg auf selbstfahrende Autos könnte diese Zahl um 90 Prozent reduzieren.

 

Auch wenn das im Autoland Deutschland für manchen ungewohnt klingt, aber Aufgabe der Gesellschaft ist es zuallererst, Arbeitskräfte und nicht Arbeitsplätze zu schützen. Laut Experten ist eine auf autonomen Fahrzeugen basierende Mobilitätsgesellschaft schon ab 2030 umsetzbar.

 

Unser fossiles Mobilitätsregime, das auch in den EU-Staaten nach wie vor steigende CO2-Emissionen produziert, ließe sich mit einem Schlag ablösen. Allerdings auf Kosten der alteingesessenen Automobilindustrie, die dabei nur noch gut ein Drittel der heutigen Autos verkaufen würde. Dafür hätten die Verbraucher bei Transport-as-a-System, einer Mobilität, die nicht mehr über privaten Pkw-Besitz funktioniert, deutlich mehr Geld in der Tasche. Kaum zu schlagende Argumente.

 

Stellen wir uns nur einmal vor, in einem Land wie Luxemburg, in dem der Autoverkehr praktisch seit Jahren schon durch hohe Einpendlerquoten zum Erliegen gekommen ist, würde den Bürgern mit diesen Argumenten die autonom-vernetzte Fortbewegungskultur nahegelegt? Tatsächlich hat das Großherzogtum vor ein paar Tagen angekündigt, den ÖPNV komplett kostenlos zu machen.

 

Die autonomen Robotaxis könnten Teil des ÖPNV werden. Was würde im Autodeutschland passieren, wenn die Einpendler mit einem Mal ihre Benzinkutschen an der Grenze abstellen müssten? Wie lange ließen sich die Vorteile eines Pkw-freien Transportsystems verschleiern, das die Menschen nicht nur deutlich weniger kostet, sondern ihnen auch Lebenszeit zurückgibt, da in einer vernetzten Kultur selbstfahrender Vehikel praktisch keine Staus mehr vorkommen?

 

Im kommenden Jahr müssen vor allem aber auch im Flugverkehr radikale Maßnahmen ergriffen werden. Momentan werden pro Tag 200.000 Flüge abgewickelt, das heißt, es befinden sich immer rund eine Million Menschen in der Luft. Zwei Flugreisen pro Jahr machen in der Klimabilanz so viel aus wie alle Autofahrten eines durchschnittlichen Haushalts zusammen. In Norwegen hat man sich bereits darauf verständigt, bis 2040 sämtliche Kurzflüge mit E-Flugzeugen abzuwickeln.

Dieser Text ist am 22.Dezember 2018 als Kolumne von Eike Wenzel in der Online-Ausgabe des Handelsblatt erschienen.

 

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