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Dr. Eike Wenzel im Gespräch mit Prof. Dr. Michael Kaschke

Verschiedene Megatrends, beschleunigte Innovationszyklen und digitale Transformationen sind für Unternehmen die Taktgeber für das Geschäft der Zukunft. Lebensstile ändern sich rasant, Produktzyklen werden immer kürzer. Plattformunternehmen disruptieren ganze Branchen. Unternehmen, Wirtschaft und Gesellschaft müssen die Herausforderungen der Zukunft antizipieren. Industrieunternehmen mit technologischem Schwerpunkt und die Zukunftsforschung können durch strategische Investitionen einerseits und wissenschaftlich fundierte Trendforschungen andererseits gemeinsam einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Darüber tauschten sich Dr. Eike Wenzel, Gründer des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung, und Prof. Dr. Michael Kaschke, Vorstandsvorsitzender der Carl Zeiss AG, bei ihrem Gespräch aus.

Dr. Wenzel: Die Digitalisierung verändert rasant viele Lebensbereiche. Die Umwälzungen in Wirtschaft und Gesellschaft sind enorm. Das betrifft auch Bereiche Ihres Unternehmens, beispielsweise die Medizintechnik, die sich in der Zukunft noch stark verändern wird. Darauf muss sich ja auch ein Unternehmen wie ZEISS einstellen.

 

Prof. Dr. Kaschke: Das ist richtig. Mit unserer strategischen Planung zielen wir deshalb über die Quartals- und Jahresplanung hinaus auf eine mittelfristige Zukunftsstrategie. Ganz wichtig ist dabei, die Prämissen für die Planung vorher sauber niederzuschreiben. Also Antworten zu geben auf die Frage, welche Annahmen den möglichen Planungsszenarien zugrunde liegen.

 

Wenzel: Dabei können sich strategisch arbeitende Unternehmen und die Zukunftsforschung bestimmt noch besser befruchten.

 

Kaschke: Ich nenne Ihnen eine dieser Prämissen. Das Thema Nachhaltigkeit. Wie lässt sich der soziale Frieden in Afrika oder Asien sichern, wenn das Problem der Gesundheitsversorgung von Milliarden Menschen nicht gelöst ist? Wir neigen leicht dazu, unsere Weltanschauung in andere Länder zu exportieren. Dabei vergessen wir oft, dass in manchen Ländern das Thema Gesundheitsversorgung zigmal akuter ist als bei uns.

 

Wenzel: Das zeigt auch die Tatsache, dass sieben der 15 Megatrends, die wir an unserem Institut herausgearbeitet haben, Nachhaltigkeitstrends sind. Wie genau das Smartphone der Zukunft aussieht, wissen wir in unserem Institut auch nicht. Aber die Megatrends genau im Blick zu behalten und zu verstehen, dazu können wir einen Beitrag leisten.

 

Kaschke: Wir haben uns deswegen gefragt, welche Megatrends für unsere strategische Planung relevant sind. Da ist zunächst das Thema alternde Gesellschaft. Und zwar die aktiv alternde Gesellschaft. Also die, die in ihrer neuen Lebensphase aktiv sein wird. Wenzel: Zum demografischen Wandel heißt es meist: Wir werden alle älter. Das lässt aber meist unberücksichtigt, dass wir uns dabei jünger fühlen. Wir treten zwischen 55 und 80 Jahren in eine komplett neue Lebensphase ein. Das hat Konsequenzen für die Herstellung vieler Produkte. Ich adressiere nicht mehr das bestimmte Alter, weil ich davon ausgehe, dass sich künftige 80-Jährige jung fühlen. Autonome Fahrzeuge können ihnen zum Beispiel neue Mobilitätswelten erschließen, was sich positiv auf ihre Lebensqualität auswirkt.

 

Kaschke: Ich finde deshalb den Begriff der alternden Gesellschaft leicht irreführend. Denn das biologische Alter einfach mit einer Zahl zu benennen, wird dieser neuen Lebensphase nicht gerecht. Neue Lebensstile können den Bedarf an bestimmten Produkten wecken. Ein wichtiges Ziel für uns ist es dabei, mit diesen Produkten die Lebensqualität zu erhöhen. Hier möchte ich als Beispiel unsere vielen innovativen Lösungen zum Sehen erwähnen. Ein anderes Thema möchte ich noch nennen, und zwar die industrielle Entwicklung in Richtung der Plattformökonomie. Es gibt weltweit beispielsweise Hunderttausende Augenärzte, die ihrerseits Millionen, ja Milliarden Menschen helfen, besser zu sehen. Wir arbeiten daran, eine Plattform für diese Ärzte weltweit zu entwickeln. Und deshalb ist auch die Plattformökonomie als Megatrend für uns ein ganz wichtiges Thema.

 

Wenzel: Die Entwicklung der Plattformökonomie ist in der Tat beeindruckend. Auf dem Netzwerkeffekt bauen viele erfolgreiche Geschäftsmodelle auf. Viele etablierte Portale werden jedoch in den nächsten Jahren ihre globale Rolle überdenken und sich in bestimmten Megatrendbereichen möglicherweise neu definieren. Und zwar so, dass zum Beispiel der regionale Fokus an Gewicht gewinnt.

 

Kaschke: Plattformen sind so dominant geworden, weil sie im B2C-Bereich über Grenzen hinweg sehr schnell und einfach skalieren können. Das hat damit zu tun, dass bei solchen Softwareplattformen die Applikationskosten gegen null gehen. Wenn Sie ein Hardwareprodukt fertigen, holen Sie mit der Stückzahl die Herstellungskosten zumindest bei einem gewissen Volumen nahezu linear rein. Die Frage ist also: Wie können wir gegen die rasch skalierenden Plattformen mit zu vernachlässigenden Replikationskosten bestehen? Die Antwort ist: indem wir branchenspezifische B2B-Ökosysteme entwickeln. Wir können das aufgrund unserer Expertise für bestimmte Bereiche oder Berufsgruppen, wie bei den Augenärzten, tun.

 

Wenzel: Haben Sie keine Bedenken, dass Softwareunternehmen auf Grundlage ihrer Algorithmen sowie unter Einsatz künstlicher Intelligenz und Machine Learning nicht irgendwann auch eine Diagnostik für den Augenarzt entwickeln

 

Kaschke: Der Einsatz von Machine Learning und künstlicher Intelligenz hat bereits begonnen, aber wir sehen uns hier eindeutig im Vorsprung. Denn wir kennen die Bedürfnisse der Ärzte und haben seit vielen Jahren Erfahrungen auf dem Gebiet gesammelt. Auf dieser Grundlage und aufgrund unserer unmittelbaren Kundennähe entwickeln wir unsere Plattformen oft gemeinsam mit den Kunden.

 

Wenzel: Ich sehe Ihren Punkt. Bei klassischen B2C-Plattformkonzepten sind Amerika und China zu weit vorn. Aber in der B2B-Welt liegt für die deutsche Industrie eine große Chance. Hier erscheint es sinnvoll, sich mit anderen Unternehmen zu verstärken.

 

Kaschke: Das tun wir bereits. Wir haben im letzten Jahr zwei Softwarefirmen gekauft, die auch auf solchen Gebieten arbeiten. Wir unterhalten mit der Industrieplattform ADAMOS eine Partnerschaft mit anderen Unternehmen, die ein bestimmtes Domänenwissen haben. In unserem Unternehmen gründen wir Gruppen, die sich losgelöst vom klassischen Geschäft auf Plattformkonzepte fokussieren können. Wir fragen uns immer, wie wir unseren Wettbewerbsvorteil erhalten können. Und da sehe ich unsere Stärke in unseren Kundenbeziehungen, in unserem Domänenwissen sowie natürlich in unserer gut gefüllten Technologiepipeline. Mergers & Acquisitions spielen dabei auch eine Rolle, aber wir entwickeln uns in hohem Maße auch organisch weiter – quantitativ und qualitativ.

 

Wenzel: Eine wichtige Frage bei Plattformen ist, wer sie moderiert. Dass man mit Konkurrenten kooperieren sollte, hat IBM schon 1995 gesagt. Die Idee des von Ihnen erwähnten Ökosystems erhält ihren unbestreitbaren Charme vor allem auch dadurch, dass aus ihm neue Produkte und Dienstleistungen entstehen.

 

Kaschke: Da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Es geht immer um den Mehrwert einer Plattform für den Nutzer. Ein Augenarzt greift beispielsweise auf eine Vielzahl anonymisierter Daten zu. Dadurch bekommt er Entscheidungsunterstützung, also zum Beispiel Hinweise auf die statistische Wahrscheinlichkeit eines prognostizierten Krankheitsverlaufs. Das ist ein Mehrwert, den wir ihm bieten können. Ein zweites Beispiel: In einem Pflegeheim sind altersbedingte Augenkrankheiten an der Tagesordnung. Eigentlich sollte man den alten Menschen heute nicht mehr lange Fahrtzeiten zur Arztpraxis zumuten. Mit sogenannter Remote Diagnosis kann vieles davon zum Beispiel gleich im Pflegeheim geschehen.

 

Wenzel: Sie sprachen ja bereits von einer neuen Lebensphase, in der Ältere, trotz mancher Einschränkungen, viel aktiver sein werden. Damit wird auch der Begriff des lebenslangen Lernens möglicherweise mit neuen Inhalten gefüllt.

 

Kaschke: Manche Siebzigjährige machen einen Computerkurs. Was motiviert sie dazu? Der Nutzen, den sie darin sehen. Der Schlüssel liegt also darin, Lernen selbstbestimmt und selbstoptimierend zu organisieren, gerade in Zeiten einer omnipräsenten Medienwelt. Und noch etwas möchte ich erwähnen zum Thema Lernen, und zwar gleichermaßen für alle Generationen: Lernen ermöglicht den Erhalt der Urteilsfähigkeit und das freie kausale Denken, damit Menschen die Dinge und Informationen nicht nur verstehen, sondern auch miteinander verknüpfen und damit letztlich auch wirklich beurteilen und bewerten können.

 

Wenzel: Dem ist wenig hinzuzufügen. Wir brauchen in dieser neuen Welt Urteilsfähigkeit. Das hört sich konservativ an, ist aber ein ganz fundamentales Thema.

 

Moderation: Guido Walter. Das Gespräch ist auf der Website der Carl Zeiss AG und im Geschäftsbericht (PDF) der Carl Zeiss AG erschienen.