Seit nunmehr fünf Jahren produziert die deutsche Industrie kein Wachstum mehr. Wachstumsskeptiker sollte das nicht erfreuen. Andererseits könnten wir Wachstum im Kampf um unsere Demokratie und bei der Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit demokratischer und zukunftsfähiger Politik gut gebrauchen. Zwei Trends müssen hierzulande und in der EU in nächster Zeit vor allem beachtet werden: 1. Wachstum muss vor Ort bei den Menschen ankommen. 2. Wir erleben aktuell einen zweiten China-Schock, der von Deutschland und der EU mutige Industriepolitik verlangt.
1.
Individuelle Zukunftsaussichten werden von Europäerinnen und Europäern direkt mit den (Infrastruktur-)Gegebenheiten ihrer Region in Verbindung gebracht. Wie eine großangelegte Untersuchung in Großbritannien zeigt, neigen einkommensschwache Menschen in einkommensschwachen Regionen zu deutlich mehr politischen Ressentiments, wohingegen sich in prosperierenden Regionen die politischen Haltungen zwischen Armen und Reichen kaum unterscheiden.
Die Studie untersucht den Zusammenhang zwischen regionaler Benachteiligung (Abgehängtsein), individuellen Zukunftsperspektiven und politischem Ressentiment untersucht und sieht im Wirtschaftswachstum den zentralen Hebel für den Erhalt der Demokratie. Wirtschaftliche Unzufriedenheit führt dagegen direkt zu politischer Unzufriedenheit. Das Gefühl, dass sich vor Ort und selbst in abgehängten Regionen durch Investitionen spürbar etwas ändert, kommt indes auch bei Unterprivilegierten an, weil es Hoffnung weckt auf Jobs, soziale Aufwärtsmobilität und Anerkennung. Der Trigger dafür: Zielgerichtetes Wachstum, das die lokale Daseinsvorsorge stärkt und Verteilungskonflikte in der Gesellschaft sichtbar entschärft.
Rechtspopulisten konstruieren ein faktenwidriges Investitions-Paradox – und erreichen damit Unzufriedene
Aus einer empirischen Untersuchung, die Abgehängtsein in ländlichen Regionen Italiens in den Blick nimmt, geht hervor, dass ausbleibende Investitionen in Infrastrukturen vor Ort eindeutig die Neigung der Bewohner abgehängter Gebiete erhöht, rechtsextreme Parteien zu wählen. Natürlich haben auch in Italien die demokratischen Parteien begriffen, dass entsprechend mehr Geld in die lokale Daseinsvorsorge gesteckt werden sollte - gerade in ländlichen Regionen, wo das Gefühl des Abgehängtseins (Landflucht, Deindustrialisierung, Alterung) sich am stärksten äußert. Aber Daseinsvorsorge kostet Geld, die Mittel dafür kommen aus Steuereinnahmen und lassen sich oft nur durch Steuererhöhungen finanzieren.
An dieser Stelle intervenieren die Rechtspopulisten und kreiern ein Investitions-Paradox, mithilfe dessen sie Stimmung gegen Migranten und den Staat machen. Die Rechtspopulisten schlachten dafür ein neoliberales Theorem aus den 1980er Jahren aus. Und das geht so: Sie beginnen ein Lamento, demzufolge Steuererhöhungen Unternehmen wie Bürger:innen ärmer und „unfreier“ machen. Der Staat, so die verkürzte Argumentation, greift der arbeitenden Bevölkerung und den Leistungsträgern in die Tasche und bläht sich als übergriffiger Nanny-Staat auf.
Die alte Mär vom übergriffigen Staat
AfD und Konsorten haben diesem wohlbekannten Narrativ vor einigen Jahren dann noch die Verschwörungstheorie hinzugefügt, wonach die Daseinsvorsorge aus Steuergeldern vor allem den Migrant:innen und nicht den „deserving natives“ zugutekomme. Der „kleine Mann“ wird dieser kruden Logik zufolge also doppelt betrogen.
An dieser Stelle schnappt das populistische Paradox zu. Regierungshandeln in Städten und Kommunen gerät in ein Dilemma: Auch wenn die Regierenden mehr Investitionen vor Ort anpacken, wird es immer schwerer, das populistische Narrativ des doppelten Betrugs am Steuerzahler zu entkräften. Der populistischen Propaganda gelingt zurzeit sehr gut, bei der abgehängten und politikverdrossenen Bevölkerung Misstrauen gegen Staatsausgaben zu schüren, die ihnen im eigenen Alltag selbst zugutekommen würden. Das Kommunikationsdesaster wird schließlich dadurch ins Absurde gesteigert, dass die Übernahme der Anti-Migrations-Rhetorik der Populisten durch Rechtskonservative in CDU und CSU die Popularität der AfD weiter steigert.
Wie kommen wir aus dem Dilemma heraus?
Eigentlich ganz einfach. Bürgerinnen und Bürger möchten den Staat wieder als handlungsfähig erleben (und nicht als Abkupferer rechtsradikaler Parolen). Meines Erachtens gibt es aktuell keine bessere Waffe gegen die Wahlerfolge der AfD als Investitionen in lokale Infrastrukturen.
2.
Zweitens wird es hierzulande in der nächsten Zeit darauf ankommen, den zweiten China-Schock zu verarbeiten.
Der erste China-Schock ereignete sich zu Beginn der 2000er Jahre. Verantwortlich dafür waren das explodierenden Wirtschaftswachstum in China und 2001 der WTO-Beitritt des Landes, der westliche Industrien und die Arbeitsmärkte - aus aktueller Sicht: moderat - erschütterte. Den zweiten China-Schock erleben wir seit dem Beginn der Pandemie 2020, obwohl er nicht in direkten Zusammenhang mit der Pandemie gebracht werden darf. Vielmehr hat sich China in den vergangenen fünf Jahren - gestützt von einer gigantischen staatlichen Industriepolitik - als Exportweltmeister grüner Zukunftstechnologien positioniert (e-Auto, Bahn, Wind, Solar) und deutsche Autobauer und Technologieriesen überflügelt.
Also nicht der Strompreis, sondern die von Chinas protektionistischer Industriepolitik erzeugten Überkapazitäten insbesondere bei den e-Autos, sowie die sich abzeichnende Achsenverschiebung auf dem globalen Mobilitäts- und Energiesektor gefährden immer mehr Arbeitsplätze in Deutschland. Im Pandemiejahr 2020 war China noch Nettoimporteur von Fahrzeugen. Mittlerweile exportiert es fünf Millionen mehr Fahrzeuge als es importiert. (Die vergleichbare Zahl für Deutschland liegt bei 1,2 Millionen und damit um die Hälfte unter dem Höchststand vor der Pandemie.)
Was tun?
Ein guter Hebel zur Entschärfung der Lage innerhalb des EU-Raums wäre kluge Wettbewerbspolitik: Die handelnden Akteure der EU-Kommission sollten die Genehmigung nationaler Subventionsprogramme an Kriterien knüpfen, die die Industrieproduktion in der EU begünstigt. Dazu gehört die Einhaltung sozialer Standards, und die Verteuerung von Produkten, die mit hohen Emissionen aus Langstreckentransporten oder kohleintensiven Produktionsprozessen verbunden sind. Darüber hinaus muss Deutschland die EU beim Schutz lebensfähiger europäischer Industriezweige nachhaltig unterstützen, die durch Chinas aggressive Industriepolitik unter Druck geraten sind.
Bleiben Sie hellwach!
Ihr Eike Wenzel
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