Trendkolumne: Warum es sich lohnt, den tobenden Wertewandel auszuhalten und zu unterstützen

Ohne technologischen Fortschritt werden wir zu keiner nachhaltigen Gesellschaft. Und ohne moralischen Fortschritt und zukunftsfähige Institutionen droht die politisch-moralische Erstarrung unserer Gesellschaft, ein Plädoyer für den Fortschritt

 

Die Rhetorik des Ausnahmezustands („Chaos“, „Kontrollverlust“, „Zusammenbruch“, „Apokalypse“, „Untergang“, „Notstand“) entspringt den rechtspopulistischen Drehbüchern. Darin wird eine Polykrise beschworen, die die kollektive Meinungsbildung mit paranoider Semantik vergiftet. Dystopie ist die Winning Strategy der Populisten.

 

Populisten und Konservative haben keine Vorstellung von einer besseren Welt. Doch wir können uns das Einrasten unserer Werte und unseres technologischen Status‘ nicht leisten. Wir brauchen Ideen, Visionen und weite Horizonte. Kurzfristigkeit, Gegenwartsfixierung, Politik ohne Mut zur Zukunft, Affekt und Polarisierung sind die Geschäftsgrundlage der Populisten.  

 

Nachhaltigkeit ist ohne technologischen Fortschritt nicht denkbar

 

Machen wir uns nichts vor, unser Überleben wird seit Jahrhunderten durch technologischen Fortschritt gesichert. Nur dank des Fortschritts der vergangenen hundert Jahre sind wir in der Lage, ein Projekt wie die Energiewende umzusetzen. Kohle, Stahl und Dampfmaschinen unterstützten sich zu Beginn der Industrialisierung gegenseitig – und veränderten die Welt. Heute ist es die „Electrification of Everything“ (Batterien, Wasserstoff, Digitalisierung), die uns den Weg in die Zukunft weist. Nachhaltigkeit ist ohne technologischen Fortschritt nicht denkbar. 

 

Wir können das ganz konkret an der seit Jahrzehnten zu beobachtenden Explosion der Kohlendioxid-Emissionen nachvollziehen: Der einzige Ausweg aus dem nicht-nachhaltigen Zustand der Jahre 1995, 2015 und 2025 ist die Erfindung von sauberen Energieträgern, also vor allem von Wind- und Solarenergie (auch wenn das damals und heute von konservativen Politiker:innen heftig bekämpft wurde und wird).  

 

Fakt ist, dass wir in Deutschland zwei Jahrzehnte (!) der Innovation und des technologischen Aufbruchs verschlafen haben. Der angesehene „Economist“ hat kürzlich die Merkel-Jahre 2005 bis 2021 als für Deutschland verschenkte Ära des Schlafwandelns sowie einer fatalen politischen Selbstzufriedenheit und Selbstgerechtigkeit beschrieben. Innovationen gerade auf dem Energie- und Mobilitätssektor wurden auf unverantwortliche Weise hinausgezögert. Aber auch international gilt, dass die Herausforderung der Energie-, Mobilitäts- und Wärmewende schneller, wirksamer und unter geringeren politischen Spannungen hätten umgesetzt werden können, wenn, ja wenn wir damit 20 Jahre früher begonnen hätten. Zu diesem Zeitpunkt wären Veränderungen einfacher, weil unter geringerem politischem Druck und mit entspannteren Zielvorgaben durchsetzbar gewesen. 

 

Was muss jetzt passieren? Der aktive Umgang mit Wertewandelprozessen ist entscheidend

 

Um den rasanten technologischen Wandel (Dekarbonisierung, Elektrifizierung, Digitalisierung, KI) vorausschauend steuern zu können, müssen wir uns in der Gesellschaft über die Werte verständigen, mit denen wir in die Zukunft gehen wollen. Wir sollten nicht noch einmal eine sozio-technologische Innovation wie in den 2000er Jahren die SocialMedia einfach „durchwinken“...der Markt wird das schon regeln. Wir müssen die Regeln des Spiels neu bestimmen. 

 

Nur wenn wir uns als Gesellschaft unserer Werte bewusst sind, können wir mit den neuen Technologien zielführend und nachhaltig umgehen. Nur wenn wir bereit sind, moralisch und weltanschaulich offen zu bleiben und den Dogmatikern („es gibt keinen Fortschritt“), Reaktionären („früher war alles besser“) und Demagogen („es gibt keine Zukunft“) zu widersprechen, können wir die Herausforderungen der Allgemeinen Künstlichen Intelligenz (AKI) und des Klimawandels in Chancen umwandeln.

 

Wir brauchen beides. Wir müssen auf Fortschritte in der Technologie und in der Entwicklung unserer Werte setzen. Werte, die wir als Menschen in unserer Kultur entwickeln, sind für die Zukunft von essenzieller Bedeutung. Werte können sich jedoch auch als sehr zählebig, als konservativ und rückwärtsgewandt erweisen (denken wir nur an den Jahrhunderte währenden Einfluss vieler Religionen und wie lange die Durchsetzung von Frauenrechten dauerte), was gesellschaftlichen und technologischen Fortschritt gefährdet. Und dafür brauchen wir uns nur anzuschauen, wie in den vergangenen18 Monaten die Diskussionen hierzulande zum Wärmeenergiegesetz geführt wurde. Als stünde er den Maschinenstürmern des 19. Jahrhunderts gegenüber, flehte der Wirtschaftsminister am 13. September im Bundestag: „Geben Sie Ihren Kampf gegen technologischen Fortschritt auf." 

 

Was wir gegen das Einrasten unseres Wertesystems tun können

 

Was wir persönlich und in Gruppen, Verbänden, Parteien gegen technologische und moralische Erstarrung tun können: Vernunft, Reflexion, Mitgefühl in den Vordergrund stellen. Im politischen Rahmen heißt das: moralisch, kulturell und technologisch forschende Ökosysteme bauen (man könnte das auch schlicht „neue Institutionen“ nennen), die das Einrasten in einer Einheitskultur verhindern. Besonders wichtig dabei: Wir sollten die Bildung von Monopolen verhindern (BigTechs, dominanten Religionen, sogenannte tausendjährige Reiche) und unausgegorene Entscheidungen, wie die Frage, wie eine Weltregierung aussehen könnte, wer die Besiedelung anderer Planeten organisiert, vermeiden.   

 

Wir müssen gerade den Akteuren in der Wirtschaft vermitteln, dass die Fortsetzung der sozial-ökologischen Transformation nicht nur satte Gewinne verspricht, sondern einen enormen gesellschaftlichen Mehrwert erzeugt, weil sie für (postfossilen) Wohlstand sorgt und für unsere Gesellschaft sinnstiftend und integrativ sein wird.

 

Raus aus dem Kurzfrist-Denken (von Talkshow zu Talkshow, von Legislaturperiode zu Legislaturperiode). Es braucht das Wagnis eines „Longtermismus" in der Politik, einer Politik des langen Atems, die Menschen – Schritt für Schritt, aber mit dem Blick nach vorne – für die Zukunftsprojekte der kommenden Jahre begeistert und sie an dieser Zukunft (auch ökonomisch) beteiligt.

 

Die Welt ist sehr viel besser. Die Welt ist immer noch schrecklich. Die Welt könnte sehr viel besser sein. All diese Aussagen treffen zu, wie es kürzlich Max Roser formuliert hat.

 

Wir können die erste Generation sein, die diese Welt zu einem besseren Ort macht.