Europa hat gewählt. Wie weiter? 4 Takeaways

Während in Deutschland viele Menschen an den Milliardenschäden der aktuellen Hochwasserflut verzweifeln, werden in Ägypten 50,9 Grad Celsius gemessen. Am Wahltag betrug der Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung in Deutschland 81,8 Prozent. Längst entstehen (bis auf den Zwei-Mann-Handwerksbetrieb hinunter) mehr Arbeitsplätze in den Erneuerbaren als bei den fossilen Energien. In Kalifornien produziert die Energiewende seit Wochen weit mehr erneuerbaren Strom als verbraucht werden kann. Die Maßnahmen zur Einhegung des Klimawandels und der Dekarbonisierung der Industrie gehen in vielen Sektoren schnell voran

 

Trotzdem herrschen bei den Wählerinnen und Wählern ebenso wie bei den Akteuren der Politik kognitive Dissonanzen vor. Junge Wählerinnen und Wähler (16 bis 24 Jahre) votierten erstmalig mit hohen Prozentquoten (AfD: 17 Prozent) für die zynische Anti-Politik der Populisten, die sich für die Bedürfnisse der Jungen überhaupt nicht interessiert. Kognitive Dissonanzen kennen wir alle, sie erzeugen das unangenehme Gefühl der Entscheidungsunfähigkeit (A oder B?). Der Populismus macht sich diesen Mechanismus zunutze: „Willst du für Klimamaßnahmen deinen Wohlstand aufs Spiel setzen...Unwetter hat es schon immer gegeben?!“ Dass nur durch visionäre Projekte wie die Energiewende der Wohlstand erhalten werden kann, dringt unter den Bedingungen einer solchen Affektpolitik bislang offenbar nicht durch. 

 

4 Takeaways, die Zukunft der Demokratie und Europas betreffend:

 

1. Unzufriedenheit lässt sich einfacher organisieren als ein gesellschaftlicher Aufbruch...Schon länger wissen wir, dass das zynische Geschäftsmodell der AfD darin besteht, Unzufriedenheit zu organisieren. Heimat-bietende Sozialmilieus gibt es seit den 1990ern nicht mehr, sie haben sich zugunsten individueller Lebensstilentscheidungen weitgehend aufgelöst. Die Wählerwanderungen erklären das unmittelbar. Die schrumpfende „alte“ Mittelschicht, der Mittelstand der Handwerksmeister und Selbstständigen fremdelt mit der Politik und findet sich (eigentlich schon seit der Agenda 2010) in der Sozialdemokratie nicht wieder. In Zeiten der Desintermedialisierung der Öffentlichkeit (Desinformation, mangelnde Informationsstandards) lassen sich Hasskommunikation und Desinformation in Sekundenschnelle und mit wenigen Klicks verbreiten. So wurde Politik zu Affektpolitik. Vor allem TikTok avanciert bei den Jungen - von den etablierten Parteien weitestgehend ignoriert - als hocheffiziente Brainwash-Maschine. Als hätte man nach der Trump-Wahl 2016 nicht genügend Zeit gehabt, Medienstrategien zu korrigieren. Jedenfalls ist TikTok jetzt der neue Volksempfänger der AfD, wie es Philipp Jessen formuliert hat. 

 

2. Was würden Konservative, die Reaktionäre und Rechtsradikale tun, wenn sie in Regierungsverantwortung kämen?...Würden sie womöglich die Energiewende absagen, wie manchmal zu hören ist? Keineswegs. Mit dem Green-Deal-Bashing hat Merz den Rechtsradikalen die erwarteten Stimmengewinne beschert (und für die CDU gerade so das Minimalziel 30 Prozent erreicht). Ursula von der Leyen und mit ihr der Green Deal sind durch die Europawahl bestätigt. CDU-Vize Andreas Jung im Deutschlandfunk: „Wir sind mit ihr (von der Leyen) einig, was die Klimaziele angeht. Das haben wir im Präsidium mit ihr besprochen. Wir unterstützen die Ziele des Green Deals.“ Am Green Deal wird in der EU und in Deutschland - auch in einem Post-Ampel-Szenario – schon allein deshalb festgehalten, um nicht den wirtschaftlichen Anschluss an die USA und China zu verlieren und um nicht die Erfolgsgeschichte der Energiewende abzuwürgen. Die Frage, die in den nächsten Tagen beantwortet werden muss: Wo sucht sich von der Leyen ihre Mehrheit, bei den Rechten oder bei den Grünen.

 

3. Außenpolitisch müssen Lösungen gefunden werden, wie die Konkurrenzfähigkeit gegenüber China und den USA gewahrt werden kann (rechtsextreme Autarkie-Phantasien sind dummes Geschwätz)…Die Franzosen interessieren sich leider nur begrenzt für Europa, doch seit 2014 gehen immerhin mehr als 40 Prozent zur Europawahl. Jetzt haben sie den rechtsradikalen Front National an die Spitze gewählt. Die Träume von strategischer Autonomie mit oder ohne EU (bei unserem westlichen Nachbarn sind eher "italienische Verhältnisse" zu erwarten) entbehren jeglicher Grundlage. Im Herbst könnte Donald Trump erneut zum US-Präsidenten gewählt werden. Dann könnte sich die Frage des transatlantischen Bündnisses neu stellen. Ein ehemaliger deutscher Diplomat sagte gegenüber dem „Economist“: „Dreaming about strategic autonomy for Europe is a wonderful vision for maybe the next 50 years. But right now, we need America more than ever.”

 

4. Demokratie darf nicht durch Verrechtlichung weiter eingehegt werden, wir müssen demokratische Teilhabe erweitern... SocialMedia machen die Meinungsäußerung von jeder und jedem zu einer Selbstverständlichkeit. Wählengehen unterscheidet sich für viele dagegen kaum noch von Shopping im Laden oder im Netz: der Kunde ist der Souverän, am Kühlregal ebenso wie in der Wahlkabine, der egoistische Nutzen und das Bauchgefühl (abstrafen oder liken) steht im Vordergrund - man ist ja nicht blöd. Markenloyalität? Fehlanzeige. Wir sollten in der politischen Kommunikation möglichst schnell die Möglichkeiten der Beteiligung erweitern, um Menschen für das Projekt der Demokratie neu zu begeistern. „One man, one vote“ reicht nicht mehr aus.