Während Rechtsradikale und die radikalisierte Mitte in Deutschland über „Remigration“ phantasieren, üben sich Leistungsträger aus Politik und Wissenschaft in Realitätsverleugnung. Dabei gibt es ein umsetzbares Fortschrittsnarrativ. Blockiert wird das immer häufiger durch eine „verhaltensauffällige“ Regierungspartei.
Merkwürdig von der bleischweren Krisenlage des Jahres 2024 enthoben liest sich das „Zeit“-Interview mit dem Soziologen Andreas Reckwitz. In diesem Januar 2024 verbreitet sich Deutschlands Starsoziologe mit verblasenen Floskeln über Moderne, Fortschritt und die Verlusterfahrungen der letzten Zeit. Verlusterfahrungen mit unserem Land haben Juden, Roma und Sinti, Homosexuelle und Kommunisten. Und in der vergangenen Woche wurde von rechtsradikalen Spinnern ein weiteres Verlusterfahrungs-Projekt verkündet: die sogenannte Remigration. Ein entsetzliches Wort aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Aber Deutschlands Vorzeigesoziologe (Merz, Scholz und Habeck lesen ihn, erklärt die „Zeit“) ergeht sich in Allgemeinplätzen über Spätmoderne, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Geschichtsvergessener geht es eigentlich nicht.
Was steht gerade wirklich auf dem Spiel? Die Verlusterfahrung eines funktionierenden Ökosystems und die Verlusterfahrung einer zumutbaren Zukunft für die Menschheit. Reckwitz schreibt: „Es ist für die etablierte Politik tatsächlich eine Herausforderung, wenn in der gesellschaftlichen Wahrnehmung Fortschrittserwartungen zunehmend unrealistisch erscheinen.“ Das schreibt er seit Jahren. Aber dadurch wird es nicht welthaltiger. Es gibt ein Fortschrittsnarrativ, es ist sogar ein nachhaltiges Fortschrittsnarrativ.
Nachhaltiger Fortschritt gegen die populistische Provokation
Es geht um die Dekarbonisierung unserer Wirtschaft. Deutschland ist hier nach wie vorhin internationaler Trendpionier. Der Green Deal der EU und Bidens „Inflation Reduction Act“ ermöglichen einen ungekannten Aufbruch auf dem Arbeitsmarkt, sinngebende Jobs auch in Handwerk und Verwaltung. Da gibt es für viele Menschen etwas zu gewinnen; Ende der McJobs, Perspektiven für junge Menschen auf der Schnittstelle zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit, Umweltinformatik https://ui.htw-berlin.de/, Solar, Windkraft, Dachdecker 2.0, E-Auto-Mechatroniker:innen. Die deutsche Industrie sucht händeringend Nachhaltigkeits-Manager:innen, dafür braucht man nur das Handelsblatt aufzuschlagen. Die Energiewende sucht verzweifelt nach Fachkräften.
Doch Deutschlands Verlust-Soziologe kann während des gesamten Interviews nicht von der deutschen Verlusterfahrung ablassen, während Bürger:innen mit Migrationshintergrund bei rechtsradikalen Kamingesprächen die Deportation angekündigt wird. Wie schafft man es als wohlsituierter Professor in Berlin sich von allem Realitätshaltigen fernzuhalten, was gerade auf den Straßen und in diskreten Hinterzimmern der Fall ist? Soziologie ohne Wirklichkeitsbezug ist in diesen veränderungsbeschleunigten Zeiten eine gefährliche Beruhigungspille – und gesamtgesellschaftlich der Schlafwagen in die Katastrophe.
Bei dem Salon-Soziologen Reckwitz ist jeder nach vorne gerichtete Satz ein Barbiturat. Vielleicht kommt ja alles gar nicht so schlimm: „Das erste (Szenario) bestände darin, dass die Fortschrittsorientierung wieder an Fahrt und Glaubwürdigkeit gewinnt. Es könnte sein, dass die Gegenwart sich retrospektiv wiederum als Zwischenphase herausstellt, eine Delle, nach der es wieder aufwärtsgeht.“ Diese lauwarmen Übergeneralisierungen, nebulöse Prognostik und die ärmelschonerbewährte Distanz zu dem, was relevante Beobachter als die größte Herausforderung für die Demokratie seit dem 2. Weltkrieg ansehen, macht einen ratlos.
Klimawandel erhöht auch kurzfristige gesellschaftliche Risiken
Wir haben ein Fortschritts-Narrativ, und das heißt Dekarbonisierung. Dieses Narrativ droht gerade jedoch am Populismus der Maßnahmen-Kritiker zu zerschellen wie die Titanic an einem Eisberg im Atlantik. Dabei müssen vor Ort, in der Gesellschaft, jetzt die Grundlagen für den Wandel gelegt werden. Ich frage mich allen Ernstes, ob Reckwitz in letzter Zeit einmal mit einem Bürgermeister oder einem Landrat gesprochen hat, darüber vielleicht, welchen Bedrohungen sie durch Rechte seit Jahren schon ausgesetzt sind.
Der Weg in eine dekarbonisierte Weltwirtschaft ist möglich, er ist alternativlos und von Unternehmen und Politik international ratifiziert. Eine zukunftsorientierte Soziologie sollte sich damit beschäftigen, wie die sozial-ökologische Transformation die Transformationsängste der Menschen besser in den Zukunftsfahrplan integriert.
Auch das Weltwirtschaftsforum in Davos sieht mittlerweile das größte Risiko für die nächsten zwei Jahre in einem gesellschaftlichen Trend: der „Krise der Lebenshaltungskosten“. Für die kommenden zehn Jahre werden jedoch vor allem Umweltrisiken geltend gemacht. Also der Klimawandel und die Gefahr des Totalzusammenbruchs der Artenvielfalt. Hier werden jedoch Ursache und Wirkung vertauscht. Tatsächlich ist es so, dass der Klimawandel, den mittlerweile niemand mehr leugnet, spätestens seit 2023 der zentrale Auslöser für die Sorgen um Wohlstand und Verteilungsgerechtigkeit („Krise der Lebenshaltungskosten“) ist.
Hierbei sollte außerdem betont werden, dass die von Populisten häufig bemühten Ängste des „kleinen Mannes“ vor der Transformation in hohem Maße im medialen Diskurs miterzeugt werden. Tatsächlich zeigen aktuelle Untersuchungen, dass hierzulande auch Menschen mit geringem Einkommen Maßnahmen gegen den Klimawandel unterstützen.
FDP: Mitregierende Fundamentalopposition
Mit der populistischen Fundamentalopposition in der Regierung (ich spreche von den verantwortungslosen Gesellen in Ministerrang, Christian Lindner, Volker Wissing, Marco Buschmann) wird es jedoch hart. Die schwer zu begreifende Ranküne der 4kommanochwas-Partei hat sich als toxisch für das Projekt der sozial-ökologischen Transformation erwiesen. Die Partei für „die Sorgen der Wirtschaft" huldigt nach wie vor einen Marktradikalismus, der für die Mehrzahl der Unternehmen längst keine Rolle mehr spielt (sie haben ihre Wertschöpfungsmodelle längst auf die grüne Transformation ausgerichtet). Zacharias Zacharakis hat die FDP als „verhaltensauffällige Partei“ beschrieben, denn sie gehört mittlerweile zu den profiliertesten Kritikern der EU-Nachhaltigkeitsmaßnahmen, nach Kritik am Verbrenneraus und am Wärmegesetzt, jetzt auch zu bestaunen beim erneuten Rückzieher am Lieferkettengesetz.
Längst ist allen klar, dass die Grundursachen für die rechtsradikalen Deportationsphantasien der Klimawandel und die mit ihm einhergehenden Migrationsbewegungen sind. Auch hier sollten wir endlich aufwachen: die Rechten wissen schon lange, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt; die Klimaleugnung diente vor allem der Erdöllobby (und wurde von ihr maßgeblich finanziert); die toxische Kritik an den Maßnahmen gegen den Klimawandel dient primär der Destabilisierung der westlichen Demokratien und hat vor allem diesen Absender: Vladimir Putin und die antidemokratische Rechte. Die Verschwörungserzählung hinter alledem: Der Klimawandel lässt sich nicht bekämpfen, viel zu teuer, keine ordentlichen Renditen, und „die Erde reicht nicht für alle“, schon gar nicht für den Traum vom Wachstum für alle (Bruno Latour: „Das terrestrische Manifest“, S. 30ff.).
Was tun?
Das Klimageld muss so schnell wie möglich an den Start gebracht werden. Und es ist gut, dass sich viele Verbände jetzt noch einmal dafür stark machen. Die elf Milliarden Euro, die seit 2021 durch die CO2-Bepreisung im Finanzministerium aufgelaufen sind, sollten, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, den Bürger:innen ausgezahlt werden, nicht zuletzt um die Akzeptanz der Klimaschutzmaßnahmen zu stärken.
Der politische Diskurs muss sich aus dem Bann der AfD lösen. Es herrscht Panik vor den ostdeutschen Wahlen im Herbst. Ein Verbot der demokratiefeindlichen AfD (Artikel 18 und 21 Grundgesetz) sollte endlich angegangen werden. Wofür haben wir die Gesetze, wenn, sie jetzt nicht angewendet werden: #NieWiederIstJETZT (bevor die AfD in Regierungsverantwortung kommt)!
Deutschland im Januar 2024. Schneestürme und eine zögerliche Politik, die vor der Wut der Wähler:innen schlottert. Schlafwandelnde Soziologen sollte sich in die politische Realität des Jahres 2024 remigrieren. Und die Zivilgesellschaft muss sich entscheiden, wie sie es mit der Verteidigung der Demokratie hält.