Wie die Letzte Generation die Diskurshoheit erobert

Quelle: ARD
Quelle: ARD

Wie keiner anderen Bewegung gelingt es der Letzten Generation, Aufmerksamkeit für den Klimawandel zu erzeugen. Obwohl ihre Akteur:innen selbst von der linksliberalen Presse attackiert werden, sind sie dabei, der Klimadebatte eine neue Richtung zu geben 

 

Am vergangenen Mittwoch kam es in Stralsund zu einem größeren Zwischenfall während einer Straßenblockade der Letzten Generation. Lukas Meyer, Student und Aktivist aus Greifswald, wurde von einem Lkw angefahren. Seine Reaktion sorgte für Erstaunen. „Ich habe Mitgefühl mit dem Lkw-Fahrer", erklärte Meyer. „Weil er unglaublich viel in seinem Leben verloren hat dadurch." Nach der Tat verlor der Fahrer seinen Job. Außerdem wurde sein Führerschein beschlagnahmt. Die Polizei ermittelt gegen ihn. Anzeige erstattete Meyer nicht, er machte lediglich eine Zeugenaussage. 

 

Straßenblockaden zur Rushour in Berlin, Monets und Van Goghs, die mit Kartoffelsuppe und Tomatensoße beschmiert werden, das Grundgesetz-Denkmal in Berlin, das mit Farbe verunstaltet wurde, der Fontana di Trevi in Roms Innenstadt, der schwarz gefärbt wurde, Aktionen gegen die „Reichen“, bei denen unter anderem Golfplätze verunstaltet wurden (der Golfplatz auf Sylt wurde „renaturiert“ und die Greens mit Bäumen bepflanzt). „Golf hat in einer Welt ohne Wasser keinen Platz“, erklärte „Extinction Rebellion“. Einige der Aktivisten füllten die Löcher mit Zement, andere pflanzten Setzlinge hinein. „Allein ein Loch eines Golfplatzes verbraucht mehr als 100.000 Liter Wasser pro Tag, um das umliegende Grün zu erhalten“, erklärte „Extinction Rebellion“ unter Berufung auf Zahlen der Umweltschutzorganisation Ecologists In Action. 

 

Naiv ist die Letzte Generation nur auf den ersten Blick

 

Laut Bundeskriminalamt sind Personen aus der Gruppierung Letzte Generation seit Anfang 2022 für 580 Straftaten verantwortlich gemacht worden (Stand Juni 2023), bei denen 740 Personen in Erscheinung getreten sind. Dass die Aktivist:innen der Letzten Generation für Irritation sorgen, ist nicht nur ihren nervigen bis phantasievollen Aktionen zuzuschreiben. Schon mit ihrem Namen stellen sie für viele eine Provokation dar, weil sie unmissverständlich auf das Gefahrenpotenzial einer weiteren Eskalation des Klimawandels hinweisen. 

 

Sie verhalten sich radikal, anmaßend, naiv, wütend und entschlossen. Wie in anderen Gruppen der Klimabewegung, geht es auch bei ihnen darum, einen Weckruf zu senden. Die Vergleiche die umgehend von Seiten der rechtspopulistischen CSU kamen („Klima-RAF“, CSU Fraktionschef Dobrindt), sind absurd. Radikal heißt, das angesichts der klimaökologischen Ausnahmesituation jetzt schnelles Handeln gefordert ist. Deshalb forderte die Letzte Generation im vergangenen Jahr die Einberufung eines „Gesellschaftsrats“, in dem zu beraten sei, was weiterhin gegen die Klimakrise unternommen werden könne. Über die Arbeit des Rates solle „in TV-Brennpunkten“ und auf den „Titelseiten der Zeitungen“ berichtet werden. Der Prozess müsse medial so begleitet werden, dass „das ganze Land (mit-)fiebert, was der Rat bespricht“.  

 

Klar ist das naiv. Aber auch bekannte Protestforscher sind spätestens hierbei der Letzten Generation auf den Leim gegangen. Wie nur wenige soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Initiativen sind sich die Aktivist:innen ihrer Mittel bewusst. Und die bestehen nicht primär in der Organisation von Mehrheiten, sondern in der Schaffung Verfremdungseffekten. 

 

Wichtig ist jedoch, dass es ein Protest junger Menschen ist, die um ihre Zukunft, ihr physisches und soziales Überleben in einer halbwegs organisierten Gesellschaft bangen und deswegen kluge Protestformen entwickeln. Was ist daran nicht zu verstehen? Absurd oder destruktiv ist nicht das Verhalten der Letzten Generation, sondern eine Gesellschaft, die gerade vieles unternimmt, um den Bezug zur Realität aufzukündigen. 

 

Aus den Talkshows werden die Verfremdungseffekte in die Wohnzimmer gesendet 

 

Ihr Protest soll irritieren, wachrütteln, Widersinniges hervorheben, Paradoxien auf die Spitze treiben, aber auch kollektive Befindlichkeiten ausdrücken und – endlich – für realitätsbezogene Diskussionen sorgen. Mit einem Wort: es geht um Agenda-Setting. Mit Geschick und Cleverness gelingt es der Letzten Generation gerade, die Diskurshoheit in der Empörungsgesellschaft zu erobern. Bei „Lanz“ sagte die Aktivistin Clara Hinrichs: „Wir machen eben, was funktioniert“. Respektive was Verfremdungseffekte erzeugt. Im April 2022 gelang es ihnen 30 Mal (!), deutsche Ölpipelines abzudrehen. Doch die Empörungsöffentlichkeit wollte davon keine Notiz nehmen, also stellten sie die Aktionen ein.   

 

Der erklärte Wille der Letzten Generation, „dass die Gesellschaft in einer Notfallsitzung zusammenkommt", um die "politische Ohnmacht" zu beenden, ist ein frommer Wunsch. Bei „Lanz“, „Maischberger“ oder wem auch immer lässt sich jedoch die absurde Lage auf den Punkt bringen, dass eine Bewegung wie die Letzte Generation kriminalisiert wird, vom Bundesverfassungsgericht aber Unterstützung für ihren Protest erhält. Im vergangenen Jahr wurde in Berlin eine Klimaaktivistin freigesprochen, da das Strafrecht, so der Richter, der existenziellen Bedrohung durch die Klimakrise unterzuordnen sei.

 

Die Talkshows sind das eigentliche Spielfeld für ihre Klima-Happenings. Hier kann die Jura-Studentin Clara Hinrichs dem Bundesjustizminister ins Gesicht sagen, dass er durch verzögertes Handeln beim Klimathema das Grundgesetz bricht. 

 

Über die Talkshows, das ist der Punkt, erreicht die Diskussion die Wohnzimmer. Eine Diskussion rückt den Bürgerinnen und Bürgern auf den Pelz, die in der Frage kulminiert, ob sich unsere Gesellschaft beim fassungslosen Zusehen populistischer Politiker und Boulevardmedien freiwillig in die Klimaapokalypse verabschieden möchte. 

 

Grenzüberschreitungen im Grau-in-Grau des Alltags, um auf die Klimakipppunkte aufmerksam zu machen, anarchischer Situationismus, um auf die drohende globale Anarchie durch die Klimakipppunkte hinzuweisen. Friedemann Karig ist das in einem brillanten Beitrag so beschrieben: „Wenn das Wissen um eine mögliche dystopische Zukunft unignorierbarer wird, kippt die Beschämung der Störer früher oder später in eine Scham der Passiven.“ 

 

Das Ziel ist nicht Zustimmung, sondern Erkenntnis und Bewusstwerdung

 

Das Ziel von Protestbewegungen besteht nicht zwingend darin, Zustimmung herzustellen. Theodor Schnaar, Biologie-Doktorand, sowie Aktivist und Sprecher der Letzten Generation, erklärt das so: „Die Menschen müssen uns als Gruppe nicht mögen. Darum geht es nicht, es geht um die Sache. Wir wollen keine Aufmerksamkeit für uns, sondern für die Klimakrise und es braucht diese schöpferische Spannung, damit wir als Gesellschaft eine Lösung erarbeiten können.“

 

Die Letzte Generation versetzt unsere Gesellschaft in „schöpferische Spannung“. Das ist ein Zeichen der Hoffnung, denn so können die Dinge, Verzweiflung, Leugnungen und Lügen in Bewegung kommen. 

 

Lukas Meyer, Clara Hinrichs und Theodor Schnarr sind Helden der Gegenwart (obwohl sie viel lieber etwas anderes tun würden).