Wie Gegenwarts-Hypnose unsere Zukunft blockiert

Die C40 versprechen 50 Millionen "gute grüne Jobs" - Deutschland wählt AfD
Die C40 versprechen 50 Millionen "gute grüne Jobs" - Deutschland wählt AfD

Wie lässt sich der Dammbruch bei der Landratswahl im beschaulichen Thüringer Landkreis Sonneberg erklären? Die Wahl des rechtsradikalen AfD-Politikers Robert Sesselmann zeigt eine Gesellschaft in Gegenwarts-Hypnose: Ja nichts ändern! Etablierten Politikern von Mitte-Rechts gefällt das.

 

Die Menschen wählen Protest, weil sie unzufrieden sind. Unzufrieden weswegen? Da hält Henry Bernhard, der Thüringen-Korrespondent des Deutschlandfunks, inne und stellt die ungeheuerliche Frage, woher denn die „diffuse Unzufriedenheit“ eigentlich kommt. 

 

Im Landkreis Sonneberg liegt die Arbeitslosenquote bei 5,1 Prozent, einer der niedrigsten in Thüringen. Gerade einmal 1.500 Menschen sind in diesem Kreis ohne Beschäftigung. Das klassische fremdenfeindliche Argument („die Ausländer klauen meinen Job“) läuft ebenfalls ins Leere: Ostdeutschland kommt deutschlandweit auf den niedrigsten Ausländeranteil, der zwischen 5,4 Prozent im Süden und 4,8 Prozent im Norden liegt.

 

Der Philosoph Odo Marquad hat diese Gefühlslage diffuser Unzufriedenheit vor Jahrzehnten einmal (und in einer komplett anderen politischen Lage) auf unnachahmliche Weise so beschrieben: „Die moderne Welt ist … auf eminente Weise … Entlastung vom Negativen. … die menschliche Angstbereitschaft – sozusagen ein anthropologischer Besitzstand – … wird … arbeitslos und macht sich auf die Suche nach neuen Gelegenheiten, Angst zu haben; und sie findet sie auch, selbst wenn sie sie erfinden muß: … Der – negativitätsentlastete – Wohlstand der modernen Welt wird – durch diese Übelstandsnostalgie der Wohlstandswelt – selber zum Übelstand ernannt.“ (Odo Marquad: Antimodernismus, 1987, S.100f.)

 

Errungener Wohlstand und Sicherheit führen bei den diffus Unzufriedenen zu Überdruss. "Übelstandsnostalgie" stellt sich ein und macht aggressiv und gierig nach Spektakel und Tabubrüchen. 

 

Die sozialen Medien helfen dabei. Dort geht es nur um den skandalisierbaren Konflikt, die eskalierbare Provokation, die punchline. Ich denke, es wäre billig, das diffuse Unbehagen und die offenbar erlittenen Kränkungen und Vertrauensverluste wieder nur auf die Politik und die Politiker:innen abzuwälzen. Meines Erachtens ist es die Aufmerksamkeitsökonomie, die die Menschen seit Jahren aus lokalen Bezügen herauskatapultiert und im Netz in sektenhafte Glaubensgemeinschaften (Kulturkampf) hineingepflanzt hat.

 

Aufmerksamkeitsökonomie 2023: Als die AfD die vermoderten Wahlplakate aus dem Keller holte

 

Wählengehen degeneriert – nicht nur in Ostdeutschland - zum frivolen Protest. So wird Politik „konsumierbar“, als Schauspiel, als Supermarkt der Empörung, wie in einem Videogame. Aufmerksamkeitsökonomie heißt, dass es immer weniger um Informationen, stattdessen um Polarisierung und Gruppenzugehörigkeiten geht. Die SocialMedia haben - mustergültig zu beobachten in Trumps Wahlkampf 2015/2016 - lokale Themen und die lokale Berichterstattung in den USA endgültig gekillt. Immer mehr besteht Politik auch hierzulande für viele vor dem eigenen Bildschirm nur noch aus eskalationsgesättigtem Weltpolitikspektakel. Dass die Thüringer AfD vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft wird, wissen viele gar nicht. Schlimmer noch: es ist ihnen wumpe.

 

Denn zuhause bei den diffus Unzufriedenen in Sonneberg herrscht seit Jahren Vollbeschäftigung (wenn auch mit vielen Billigjobs abgesichert). Aber nur mit dem Spektakel der „großen Politik“ lässt sich die diffuse Unzufriedenheit organisieren. Der rechtsradikale Landrats-Kandidat Sesselmann hat die Aufmerksamkeitsökonomie verstanden und platzierte in seinem Wahlkampf ausschließlich Bundes- und Globalthemen. Die haben einen anderen Wumms: Friedensverhandlungen mit Russland, forderte er ganz staatsmännisch, damit nicht noch mehr Flüchtlinge in den Landkreis kommen, das Heizungsgesetz abschaffen, Kampf gegen den Islam, gegen den Euro und – kleine absurde Pointe - für den Diesel. Dafür wurden von der AfD sogar noch einmal bereits angefaulte Wahlplakate von früher aus dem Keller geholt und an jeden Pfosten im beschaulichen Sonneberg gehängt. Mit Kreisumlage und Verwaltungsreform lässt sich kein Staat machen.

 

Funktioniert eine Gesellschaft unter Gegenwarts-Hypnose überhaupt noch?

 

„Wir warten einfach, was die Grünen machen und behaupten das Gegenteil“, damit brüsten sich mittlerweile die Spindoctors der AfD, wenn sie auf ihren Erfolg angesprochen werden. Doch die bürgerlichen Parteivorsitzenden Friedrich Merz, Markus Söder und Christian Lindner haben in den letzten Wochen auch nichts anderes getan. Diffamierungskampagnen und gruselige Metaphoriken wie „Energie-Stasi“ (Mario Voigt, CDU), „Fair heizen - statt verheizen" (Mario Czaja, Generalsekretär der CDU) haben das window of opportunity für eine ermutigende Zukunftserzählung zugeschlagen.

 

Eine „arbeitslose Angst“, wie es Odo Marquard nennt, füttert das diffuse Unbehagen insbesondere im Osten. Politik als kleine sadistische Abstraf-Aktion für die Demütigungen der Vergangenheit. Es funktioniert: die Hypnose der Populisten in Westeuropa, den USA, in Polen und in Ungarn. Relative Zufriedenheit zwischen gediegenem Überdruss und dem Wunsch, es möge bitte, bitte alles so bleiben, wie es ist. Anlässe für gelegentliche Empörungen werden sich schon finden lassen, selbst wenn man sie erfinden muss. Wie beispielsweise den rechtspopulistischen Mythos, dass früher alles besser war und dass es dieses Damals wirklich gegeben habe, wo angeblich alles erträglicher war. 

 

Ambivalenz aushalten, eine Robustheit für Veränderungen zu entwickeln, ohne die angesichts des Klimawandels tatsächlich nichts mehr so bleibt, wie es erträglich ist, das möchten wir uns nicht mehr zumuten. Dabei bräuchten wir in komplizierten Zeiten, wo Links- und Rechts keine Bedeutung mehr hat und die planetaren Grenzen schnelles Handeln erfordern, dringender denn je zustimmungsfähige Zukunftserzählungen. Wir wissen, wie wir die Erderwärmung begrenzen können. Wir kennen die Roadmap, die uns ans Ziel führt. Wir sind uns sicher, dass wir dadurch unsere Industrie und unseren Wohlstand erneuern können. Schon heute fehlen Tausende Arbeitskräfte für die sozial-ökologische Transformation. Wir bilden Menschen für diese Zukunftsberufe aus und machen sie „on the job“ zu Experten des Wandels.

 

Die diffus Unzufriedenen tun alles, um sich selbst zu hypnotisieren und aus der Wirklichkeit auszusteigen (die AfD ist ihr Reisebegleiter in die Apokalypse). Die Situation ist komplett absurd. Und wäre sie nicht gleichzeitig brandgefährlich wie das Feuer kürzlich entlang der Bahnlinie zwischen Radolfzell und Markelfingen oder die Überschwemmung nach dem Unwetter in Kassel vor ein paar Tagen, könnte man es wirklich lustig finden. Doch es geht um unsere Zukunft. C40, eine Organisation der größten Städte dieser Welt, versprechen 50 Millionen „good, green jobs“ bis 2030. Die sozial-ökologische Transformation kann sofort beginnen. An Jobs wird es nicht fehlen. Gerade droht der Fachkräftemangel die Energiewende in Deutschland zu bremsen. Für den Ausbau der Solar- und Windenergie fehlen laut Institut der deutschen Wirtschaft (IW) aktuell 216.000 Fachkräfte. Gebraucht werden laut Studie knapp 17.000 Elektrik-Fachkräfte, sie seien das „Nadelöhr der Energiewende“. Zudem fehlen 14.000 Experten in der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik (SHK) sowie etwa 13.600 Informatiker. 

 

Funktioniert eine Gesellschaft noch, in der sich fast 20 Prozent der Bevölkerung, demnächst vielleicht 30 Prozent, womöglich ganz Ostdeutschland, aus der Realität verabschieden? Der unsägliche Bestseller des Leipziger Germanistik-Professors Dirk Oschmann diagnostiziert eine Diskriminierung der Ostdeutschen und verortet die Ursachen – der zeitgeistigen Einfachheit halber – komplett bei den Westlern. Wie wir wissen, ist diese Opferrolle auch ein Schlüssel-Narrativ der Rechtspopulisten. Sonneberg im Sommer 2023: Unter Vollbeschäftigung in den Faschismus?