Der Schock des Aufbegehrens in China. Junge Menschen rebellieren gegen den Superstaat. Facebook und Twitter als Speerspitze der algorithmischen Aufmerksamkeits-ökonomie implodieren in kürzester Zeit. 120.000 Arbeitsplätze (watch the Layoff-Tracker) gehen verloren, mehr als zu Beginn der 2000er Jahre, als die Dotcom-Blase platzte. Alles das zeigt: Wir brauchen Konzepte für einen digitalen 3. Weg
Keine Frage, die chinesische Rebellion der vergangenen Tage könnte sich als vorübergehend herausstellen. Sie kommt indes keinesfalls zufällig. Gerade hatten wir noch die irritierenden Bilder von Xis Machtübernahme auf dem Parteitag Ende Oktober vor Augen. Und jetzt? Die chinesische Zero-COVID-Strategie hat sich als sozialpsychologischer Brandbeschleuniger erwiesen. Angeblich wollte sich der Alleinherrscher Xi damit eine zu allem bereite Workforce modellieren, mit der er den chronisch kränkelnden und hüstelnden Westen in fünf Jahren ökonomisch an die Wand drückt.
"Social Credit Scores" sollten den Aufbruch in das Jahrhundert des chinesischen Staatskapitalismus unter Vollkontrolle der Zivilgesellschaft beschleunigen. Schaut her, mit dem ent-individualisierten Menschenbild der Chinesen (hierin herrscht kompletter Konsens mit Genosse Putin) lässt sich eine bessere Zukunft bauen und planvolleres Wachstum erzeugen, schwante bereits reaktionären Zeitgenossen aus dem christlichen Abendland. Um auf dem globalen Markt den Wohlstand für das Wahlvolk sicherzustellen – davon sind ja schon seit längerem die illiberalen Demokratien unter anderem in Ungarn und Polen, Singapur und Vietnam beseelt –, brauche es weder eine wohlfahrtsstaatliche Demokratie noch den westlichen Luxus freier Meinungsäußerung und schon gar nicht das Premiumticket individueller Selbstentfaltung.
Wie geht Peking mit den Grenzen des Wachstums um?
Wenn sich die "autoritären Charakter" von Peking bis in den deutschen Männerbund der AfD hinein da mal nicht getäuscht haben. Momentan wird in China der Konflikt um Freiheitsrechte und individuelle Selbstentfaltung auf den Straßen ausgetragen. Was für große Teile der Welt, vor allem für Osteuropa, als mittlerweile gescheitert galt: Wohlstand, Wellbeing, die Entstehung einer freiheitsorientierten Mittelschicht, das betörende Aroma der Internationalisierung, Reisefreiheit, Freiheit der individuellen Lebensgestaltung, könnte in den kommenden Wochen in China zu heftigen Verwerfungen führen. Smarte digitale Kontrolle in einer globalisierten Welt funktioniert offenbar doch nicht so reibungslos wie von einem Betonkopf wie Xi erhofft.
China erlebt erstmals die Grenzen des Wachstums. Bereits seit Beginn der 2010er Jahre schwächelt die Wirtschaftsleistung, während die junge Generation an anspruchsvollen Lebensentwürfen schmieden, die denen der westlichen Hemisphäre in nichts nachstehen. Der daraus resultierende Erlebnis- und Erwartungsdruck existierte bereits vor Corona. Die kurzsichtige Zero-Covid-Politik Pekings hat die Unzufriedenheit exponential anwachsen lassen, nicht zuletzt weil auch Mieten und Lebenshaltungskosten weiter anwuchsen. Die knallharten Lockdowns pferchten die Unzufriedenen, die zukünftige Elite des Landes, in Wohnheimen unter katastrophalen psychischen und sanitären Bedingungen ein. Protest formierte sich, und das übrigens schon im vergangenen Jahr. “Lying flat”, abhängen und resignieren, galt lange Zeit als die Signatur einer Generation, die seit einigen Jahren schon Akademikerarbeitslosigkeit, gnadenlosen Konkurrenzkampf und schließlich autoritäre COVID-Maßnahmen ertragen musste. Doch aus Frustrierten und Weggeschlossenen formierte sich eine Jugendrebellion aus guten Gründen. Wie das den chinesischen Big State verändert, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.
Die Identitätskrise des Silicon Valley
Dass wir uns seit einigen Jahren auf eine sozial-technologische Bifurkation zwischen BigTech und Big State hinbewegen, die für erheblichen gesellschaftlichen Sprengstoff sorgen wird, ist vielen bekannt. Auf der Seite der illiberalen Nicht-mehr-Demokratien werden mittlerweile mehr Patente entwickelt als im liberalen Westen. Und das Silicon Valley auf der Seite von BigTech befindet sich in einer fortgeschrittenen Identitätskrise und setzt gerade 120.000 Beschäftigte frei.
Die Krisenmanager von BigTech im Westen stürzen sich jetzt unter anderem auf die Digitalisierung des Gesundheitsmarktes. Gigantische Investitionen fließen in diese Richtung. Google schürft unter anderem durch die FitBit-Akquise gigantische Mengen an privaten Gesundheitsdaten. Amazon hat sich im Sommer die US-Klinikkette One Medical für sage und schreibe 3,9 Milliarden US-Dollar einverleibt, um an seine digitale „Amazon Pharmacy“ ein Hausarztsystem anschließen zu können. Datenschützer, Gesundheitsökonome und Krankenkassen warnen nicht ohne Grund vor einem "disruptiven" Gesundheitssystem, das auf Amazon-Empfehlungen beruht. "Kunden, die diesen chirurgischen Eingriff gekauft haben...". Ironie ist fehl am Platz: Durch den One-Medical-Kauf möchte Amazon vor allem die Daten zwischen Arzt und Patient, Patient und Krankenkasse abfischen. Eine Big-Brother-Gesundheitsökonomie wird vorstellbar, in der der Arbeitgeber darüber entscheidet, wer krank oder nicht krank ist.
Wie kommen wir aus den Zumutungen von Big State und BigTech heraus?
Ich denke, wir haben die Freiheit und die Verantwortung, einen dritten Weg zu gehen, der auf Grundlage der folgenden Einsichten kartografiert werden sollte:
_ Individualisierung prägt unsere westlichen Gesellschaften seit Beginn der Aufklärung. Im 21. Jahrhundert sind Demokratie und Individualisierung ohne die Datenhoheit des einzelnen nicht vorstellbar;
_ Weder das Modell des Daten abliefernden 365/24-Konsumenten (bei gleichzeitigem Rückbau von Demokratie und Liberalität) noch Big Brother á la Xi werden den Bestand einer freiheitlichen Gesellschaft garantieren;
_ Technologie-Wettbewerb unter aktualisiertem Wettbewerbsrecht statt Daten-Monopole und Onlinemarketing-Oligopole;
_ Integrativer Technologiegebrauch: digitale Innovation für das Gemeinwohl; Äquidistanz zu BigTech und Big State; verfassungsmäßig garantierte Datenrechte.
Dafür sollten wir so etwas wie eine Datentreuhand gründen, in der anonymisierte Daten im Sinne eines „höheren Gemeinguts“ nutzbar werden.