Zehn Trends, die 2022 prägen werden Im Jahr 2022 muss die Digitalisierung liefern – nicht zuletzt wegen der neuen Regierung rückt das Thema in den Vordergrund.

Foto: Shutterstock
Foto: Shutterstock

Den Kampf gegen den Klimawandel müssen wir mit dem gleichen Pioniergeist wie ein Weltraumprojekt angehen. Gleichzeitig steht das kommende Jahr für den Aufbruch in den Cyberspace, mit NFTs, Play-to-earn-Games und digitalem Geld. 2022 stehen die Zeichen auf cyber-ökologische Modernisierung. Dafür braucht es Mut. Denn der Ausgang des epochalen Projekts eines „Green Deals“ ist offen.

 

Schaut man sich den Koalitionsvertrag an, kann einen schon der Gedanke beschleichen, dass die Wirtschaftsliberalen der FDP gut verhandelt haben. Schon im Titel („Mehr Fortschritt wagen!“) deutet sich an, dass die Freidemokraten der Kanzlerpartei nicht nur den Willy-Brandt-Sound geklaut haben. Auf nicht weniger als 95 Seiten des 177 Seiten langen Dokuments zeigt die Suchfunktion das Wörtchen „digital“ an (auf Einzelseiten wird „digital“ bis zu siebenmal gefunden). Damit übertrifft die schillernde Vokabel sogar die Nennung des Klima-Themas mit 74 Nennungen.

 

Das Vertrauen in Technik und Digitalisierung ist groß. Doch der Ampelaufbruch wird sich vor allem an der Frage entscheiden, ob ein neues Fortschrittsnarrativ („Dekarbonisierung“) in der Koalition verstanden wird und Mehrheitsfähigkeit erlangt. Jede technologische Innovation muss künftig zwei Schlüsselfragen beantworten: ob sie marktfähig ist und ob sie den planetaren Grenzen gerecht wird.

 

Zehn Trends, Maßnahmen und Prozessinnovationen, die 2022 besonders wichtig werden:

 

1. Green Tech: Das Investitionsklima könnte besser nicht sein

Laut der Ratingagentur Moody’s gehen Nachhaltigkeitsfonds regelrecht durch die Decke und werden 2021 noch die Grenze von einer Billion US-Dollar überspringen. Gegenüber dem Vorjahr entspricht das einem Zuwachs von 64 Prozent. Die Infrastrukturpläne der Biden-Regierung, ein zumindest verhaltenes Aufbruchssignal auf der COP26 und der Klimaplan der deutschen Ampelregierung werden den Trend im kommenden Jahr weiter verstärken.

 

Neue Unternehmen treten in alten Industrien in den Vordergrund: Beispielsweise Graf Tech International aus den USA. Mit seinen Grafitelektroden liefert der Konzern ein Schlüsselprodukt für die elektrische Stahlproduktion der Zukunft. Beim Elektrostahlverfahren bildet sich deutlich weniger CO2, da Stahlschrott, wie der Name schon sagt, bereits Stahl beinhaltet, welcher lediglich neu aufgeschmolzen wird. Durch den Aufbau elektrischer Spannung lässt sich mit Grafitelektroden Stahl bei Temperaturen bis zu 3.500 Grad Celsius ökoeffizient einschmelzen. Denn bei diesem Elektrostahlverfahren wird vorhandener Metallschrott geschmolzen und zu neuem Stahl weiterverarbeitet. Ein weiterer Vorteil vom Elektrostahlverfahren ist, dass man regionalen Metallschrott verarbeiten kann, welcher in Industrienationen zur Genüge vorhanden ist.

 

2. Lebensmittel: Strengere Regeln in Bezug auf CO2-Neutralität

Seit Kurzem hat unter Nahrungsmittelmanagern die Formulierung „Produkte CO2-neutral zu stellen“ einen magischen Klang. Fleischverarbeiter, Drogerieketten, Discounter bis zu den Nahrungsmittelgiganten wittern die Chance der Imagekorrektur.

 

Das Vorpreschen mit klimaneutralen Produkten erweckt Misstrauen. Dabei können CO2-neutrale Produkte eigentlich nur in CO2-neutralen Unternehmen und an CO2-neutralen Produktionsstandorten entstehen. Und lassen sich mit dem Verweis auf klimaneutrale Produkte nicht Unternehmen, die ansonsten wenig von Tierwohl und Umweltschutz halten, auf elegante Art und Weise grünwaschen? Für Produkte behauptete CO2-Neutralität ist leider nur die nächste Marketingaktion, die, zumindest vorübergehend, in Vergessenheit geraten lassen möchte, dass das Gesamtsystem unserer Ernährung krank ist.

 

Bei der Nachvollziehbarkeit von CO2-Neutralität von Unternehmen werden im kommenden Jahr Nägel mit Köpfen gemacht: Anti-Greenwashing-Regulatorik. Die „International Financial Reporting Standards Foundation“ in London wird 2022 verpflichtende Standards für ihre Mitgliedsunternehmen veröffentlichen. Neue EU-Initiativen für den Umgang der Unternehmen mit Klimarisiken werden im Sommer des kommenden Jahres erwartet; entsprechende Bestimmungen für Singapur und die USA werden unmittelbar folgen.

 

3. Einheitlicher CO2-Preis

Um die Energiewende mit angemessener Dringlichkeit voranzutreiben, brauchen wir endlich eine verlässliche Klimawährung: einen umfassenden, möglichst weltweit konvertierbaren CO2-Preis jenseits der 60 Euro pro Tonne CO2.

 

Momentan profitieren vor allem einkommensstarke Haushalte von der Energiewende. Sie nutzen Fördermittel für Elektroautos, für Erneuerbare und für mehr Energieeffizienz.

 

Eine Energiepreisreform mit einer flächendeckenden CO2-Bepreisung wäre demgegenüber der gerechtere Ansatz. Ein CO2-Preis lässt sich mit geringen Kosten einführen, ist aber äußerst wirksam. Er würde vor allem die fossilen Altenergien belasten. Das belastet Strom, der aus fossilen Energieträgern stammt, und macht erneuerbare Energien günstiger. Diese könnten bevorzugt genutzt werden, um den Klimaschutz im Verkehr voranzutreiben, aber auch in der Industrie oder für Kühl- oder Heizenergie.

 

Der Klimaökonom Andreas Löschel fordert, die CO2-Steuer als ersten Schritt in diese Richtung einzuführen und später in einem Emissionshandelssystem aufgehen zu lassen. Auch Technologien wie das Carbon Capturing lassen sich nur so vernünftig weiterentwickeln.

 

4. Kampf gegen Klimawandel wird vernetzter und internationaler

Große Herausforderungen wie Pandemien und die Erderhitzung lassen sich nur in internationalen Netzwerken anpacken. Der Klimawandel macht vor Grenzen nicht halt. Umso wichtiger ist es, dass Länder mit ehrgeizigen Klimazielen dadurch keine Wettbewerbsnachteile erleiden. Ein Grenzsteuerausgleich sollte möglichst schnell geschaffen werden, um die Verlagerung emissionsintensiver Produktion ins Ausland, das sogenannte Carbon Leakage, zu vermeiden.

 

Die Idee eines Klimaclubs der weltweiten Innovationspioniere oder zumindest innerhalb der EU wurde von der Erlanger Ökonomin Veronika Grimm vorgeschlagen und hat auch Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden. Dieser Club der Klimapioniere sollte sich auf einen ehrgeizigen CO2-Preis einigen, würde innerhalb des europäischen Staaten-Netzwerks so etwas wie einen „Green Deal auf Speed“ schaffen und könnte zu einem wichtigen Booster für eine postfossile Innovationskultur werden.

 

5. CrisprCAS: Umdenken bei genmanipulierten Lebensmitteln

Nach wie vor stützt sich die EU auf eine Gentechnikgesetzgebung aus dem Jahr 2001. Im Jahr 2018 schaffte der Europäische Gerichtshof noch einmal strenge Auflagen für CrisprCAS, die sogenannte Genschere, was für viele hilfreiche Lebensmittelinnovationen auf dem europäischen Markt das Aus bedeutete.

 

Mithilfe der Genschere lässt sich eine höhere Widerstandskraft von Reis- oder Weizensorten gegen Pilzinfektionen herstellen, der Geschmack von Tomaten optimieren und lassen sich Allergene in der Erdnuss blockieren. Für das kommende Jahr zeichnet sich innerhalb der EU ein Umdenken ab. Grundlage hierfür ist eine im April vorgestellte Studie, die für eine Abkehr von den strengen Freisetzungsregeln des derzeit gültigen EU-Rechts plädiert.

 

6. CO2-neutraler Zement ist im Kommen

Weltweit werden pro Jahr 30 Milliarden Tonnen Beton beim Bau von Häusern, Straßen und Brücken verwendet. Der darin verwendete Zement verursacht acht Prozent der Kohlendioxid-Emissionen auf der Erde. Bislang galt Zement als alternativloses Material. In den vergangenen zwei bis drei Jahren hat sich das geändert. Denn ausgerechnet die Hersteller von Zement und Beton könnten schon bald Teil der Lösung sein.

 

Heidelberg Cement und das australische Unternehmen Calix haben Pilotanlagen an den Start gebracht, bei denen die 1400 Grad Hitze zur Herstellung von Klinker als Bestandteil von Zement mit elektrischer Energie bereitgestellt werden. Kommt der Strom komplett aus erneuerbaren Quellen, kann tatsächlich von CO2-neutralem Zement gesprochen werden.

 

Ein Zauberwort in der „ergrünenden“ Zementindustrie lautet: „Reverse Calcination“. Hierbei wird das CO2, das bei der Betonzubereitung frei wird, aufgefangen und in den Prozess zurückgeführt, was den Beton obendrein noch härter macht. Die Berater von McKinsey haben berechnet, dass mit diesem Verfahren mittelfristig bis zu 30 Prozent der Emissionen eingespart werden können.

 

7. Digitalisierung des Bauens: Weniger Materialverschwendung

 

Beim Bau und der Nutzung von Wohn- und Arbeitsraum wird in Deutschland ein Drittel aller CO2-Emissionen erzeugt. Aber auch hier verspricht die Digitalisierung hohe Effizienzgewinne: Allein durch den nachträglichen Einbau von Thermostaten ließen sich in einem Berliner Neubauprojekt bis zu 24 Prozent der Kosten einsparen.

 

Eine US-amerikanische IT-Größe wie Autodesk hat die nachhaltige Bedeutung von Software für den Bau erkannt. Sie hat einen Rechner entwickelt, der kalkuliert, wie viel CO2 welche Baustoffe für ein konkretes Bauprojekt erzeugen. Was früher Wochen und Monate dauerte, wird jetzt auf Knopfdruck zugänglich.

 

Präzise Simulationen von Bauprojekten verhindern darüber hinaus Organisationspannen, wenn unzählige Firmen und Zulieferer an einem Objekt werkeln. Digitalisierung gestattet es so, mit einfachen Mitteln von den 20 Prozent Materialverschwendung wegzukommen, die durchschnittlich nach wie vor bei Bauvorhaben anfällt.

 

8. Daten, Monitoring, Verkehr

 

Verlässliche Daten zur CO2-Reduktion müssen erzeugt werden, und diese Daten müssen unterschiedlichen Akteuren zugänglich sein. Maßnahmen, etwa um den Verkehr ökologischer zu machen. Dazu wären eine City-Maut und ein konsequenter Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs gut.

 

Auf der COP26 wurden unter Artikel 6 wichtige Regeln und Verfahren für ein nachvollziehbares Datenmonitoring festgeschrieben, die eine realistische Nachvollziehbarkeit bei der CO2-Minderung möglich machen. Spätestens 2024 greift für jedes Land eine detaillierte Buchführung (unter anderem die Doppelzählung von Emissionen) über Klimafortschritte.

 

Doch die Klimadigitalisierung reicht noch weiter: Die Dekarbonisierung des Verkehrs und die Modernisierung des städtischen Raums sind ohne ein umfangreiches Datenmanagement nicht umsetzbar. Der Koalitionsvertrag kündigt hierfür ein Mobilitätsdatengesetz an, das unter anderem die unbeschränkte Nutzung von Fahrzeugdaten über ein Treuhändermodell vorsieht.

 

9. Play-to-earn-Games und digitale Währungen

Das Internet startete mit der Verheißung eines dezentralen, basisdemokratischen Supermediums – das deprimierende Ergebnis sind Fake News, Hass und Tech-Monopole wie Facebook und Google. Unerschütterliche Netzoptimisten sehen neue Chancen für Dezentralisierung, Emanzipation und Teilhabe ausgerechnet im Gaming-Trend und in der dezentralen Blockchain heraufziehen.

 

Experten sind sich einig, dass über den weltweit boomenden Gaming-Markt Technologien wie Blockchain und Micropayments ab 2022 marktfähig werden. Gamer in Venezuela oder auf den Philippinen bestreiten mit Online-Games wie „Axie Infinity“ bereits ein bescheidenes Einkommen.

 

Mit einem Umsatz von 336 Milliarden US-Dollar ist Videogaming mittlerweile die weltweit größte Medienindustrie. Weit vor dem linearen Fernsehen, Streaming und der Musikindustrie. Knapp drei Milliarden Menschen spielen Games. Beobachtet man 15-Jährige dabei, wie sie sich feiern, wenn ein (digitaler) Freund in „League of Legends“ von einem Alliierten gerettet wurde, der bekommt ein Gefühl dafür, dass Cyberspace und analoge Realität immer stärker überlappen.

 

Erfahrungen im Cyberspace sind für die Gamer-Community nichts anderes als reale Erfahrungen. Und virtuelle Freundschaften sind authentische Freundschaften. Auf der Plattform des Spieleentwicklers Roblox entwickeln Gamer im Handumdrehen eigene Spielideen und lassen sich dafür mit der plattformeigenen Währung Robux (R$) entlohnen.

 

Auf Roblox sind täglich mehr unter 13-Jährige unterwegs als auf Youtube oder Netflix. Eine Medienrevolution, die der Boomer-Mainstream nach wie vor nicht zur Kenntnis nehmen will.

 

10. Das Zeitalter von Kryptowährungen und Digitalgeld bricht an

2022 könnte das Jahr werden, in dem sich die digitale Finanzwelt auf den Weg in die gesellschaftliche Mitte macht. Der Hype um das 70 Millionen US-Dollar teure und aus Blockchains bestehende Kunstwerk von Beeple hat gezeigt, dass der Cyberspace mit neuen Identitätsversprechen lockt. Was der digitalen Finanzwelt bislang fehlt, ist eine Realwirtschaft, auf die sie sich beziehen kann. Die Anzeichen verdichten sich, dass in den nächsten Jahren die Games-Kultur und ihre enormen Kreativitätspotenziale zu dieser neuen Realwirtschaft heranwachsen werden. 

 

Was passiert, wenn Facebook/Meta Platforms seine Währungspläne mit dem Libra/Diem umsetzt und sich im Metaverse zu einem Online-Staat aufschwingt, der jede Transaktion seiner Nutzer kontrolliert?

 

Die Bankenlizenz wurde bereits im Mai 2020 beantragt. Sind wir darauf vorbereitet? Hier droht die nächste digitale Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Wir sollten diese Gelegenheit, vernünftige Bedingungen für den Aufbruch ins Metaverse zu schaffen, nicht verstreichen lassen, wie es bei den Social Media der Fall war.

 

Es wird höchste Zeit, dass Gesellschaft und Politik den nächsten Digitalisierungsschub erkennen und mitsteuern. Digitale Gegenstände und Umgebungen werden für viele Menschen immer alltagskonstitutiver, der Sportschuh-Gigant Nike sucht händeringend „Virtual Material Designer“.

 

Empirische Realität und Cyberspace überlappen sich, was schon 2022 neue soziale und ökonomische Verhaltensweisen ausprägen wird. Sind wir wirklich darauf vorbereitet?

 

Zuerst erschienen in Handelsblatt, 27. Dezember 2021