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„Places matter“: Wie wir vor Ort die Welt verändern können

Shutterstock: Mailand 2015
Shutterstock: Mailand 2015

Kluge Bündnisse vor Ort haben Kopenhagen zur Metropole der nachhaltigen Moderne gemacht. Auch in Deutschland wird die Zukunft regional entschieden.

 

Horizontale Netzwerke machen Kopenhagen zur nachhaltigen Stadt

 

Nicht zuletzt die Art und Weise, wie wir in den kommenden Jahren unsere Mikrostrukturen vor Ort neu organisieren, entscheidet darüber, ob die sozial-ökologische Transformation gelingt.

 

„Places matter“, konkrete Orte sind für den anstehenden Wandel der kommenden Jahre deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie neue Lebensstile, alternative Ernährungsstile, den Umgang mit neuen Technologien in einer sich verändernden sozialen und ökologischen Umwelt in der Keimzelle der Gesellschaft, vor Ort, verankern.

 

Wer sich auf eine solche „Neucodierung“ unseres Lebens vor Ort einlässt, wird zu einem Zukunftsagenten, „der sein Ändern lebt“, wie es eine hübsche Sponti-Sentenz auf den Punkt bringt. Wir alle spüren: Vor Ort, in der unmittelbaren Lebensumgebung, werden die Herausforderungen des Klimawandels direkt spürbar (Hitze, Starkregen, Umweltbelastungen ...), sodass Handlungsdruck entsteht und Lösungen zielführend diskutiert werden können.

 

Wenn es gut geht, bilden sich vor Ort, so haben es die amerikanischen Urbanisierungstheoretiker Bruce Katz und Jeremy Nowak beschrieben, „horizontale Netzwerke“, die Zukunftsagenten (aber auch die Zögernden, die Skeptiker und Ängstlichen) zusammenführen.

 

Horizontale Netzwerke bringen Verwaltungen, Bürger, Politik und Unternehmen vor Ort zusammen und verpflichten sie auf ein gemeinsames Ziel: eine nachhaltige Perspektive für die Stadt und steigende Lebensqualität für die Bürger. Horizontal sind diese Netzwerke auch deshalb, weil sie auf Augenhöhe, ohne Hierarchien gelebt werden.

 

Kopenhagen als nachhaltiges Vorzeigeprojekt

 

Kopenhagen ist ein gutes Beispiel für die transformative Kraft von „places matter“. Die dänische Hauptstadt ist nicht nur deshalb ein nachhaltiges Vorzeigeprojekt, weil sie – wie hinlänglich beschrieben – Fahrradmobilität präferiert, sondern weil sie sich innerhalb von 20 Jahren von einer mediokren Facharbeiterstadt in einen urbanen Prototypus der nachhaltigen Moderne verwandelt hat. Entscheidend dafür waren gut funktionierende horizontale Netzwerke, die die „Assets“ des Ballungsraums selbstbewusst und vorausschauend genutzt haben.

 

Wie funktioniert das? Viele der Erfolgsgeschichten von Netzwerken vor Ort „entzünden“ sich an kleinteiligen und wenig spektakulären Projekten. In Kopenhagen führte der Bau der Öresund-Brücke im Jahr 2000 zu einer Umsatzkrise im Hafengeschäft. Die Stadt beschloss deshalb, eine ziemlich unspektakuläre Fläche von drei Quadratkilometern zwischen dem alten Kopenhagen und dem Flughafen mit Hochdruck zu erschließen.

Was zum damaligen Zeitpunkt noch niemand wissen konnte: Für Kopenhagen war es der Beginn seiner sozial-ökologischen Transformation. 

 

In Kopenhagen ist es gelungen, gerade über das finanzstrategische Vehikel der CPH City & Port Development (einer Gesellschaft, die zu 55 Prozent der Stadt Kopenhagen und zu 45 Prozent dem Staat Dänemark gehört) den Wert der eigenen Besitztümer geduldig zu veredeln und mithilfe geschickter Investitionen in bürgernahe Dienstleistungen (ÖPNV, 278 Millionen Euro für Radwege, Freizeit und Natur) einen innerstädtischen Wachstumsschub auszulösen.

 

Die Neuausrichtung des ÖPNV – vorbei am Fetisch Auto – wurde federführend von der CPH City & Port Development initiiert. Und: An diesem Prozess wurden eine Menge privater Unternehmen beteiligt.

 

Bürgerstrom als Zukunftsvision

 

Schauen wir nach Deutschland. Der rasante technologische Wandel vor Ort ist bei den Menschen hier insbesondere in Form der Energiewende angekommen. Und hier locken tatsächlich jede Menge „Transformationsdividenden“.

 

Mit dem „Nachbarschaftsstrom“, dem „Regionalstrom“ und dem Bürgerstromhandel sind vor Ort Konzepte umgesetzt worden, in denen Erzeuger und Verbraucher auf neue Art und Weise in Beziehung zueinander treten und voneinander profitieren.

 

Übrigens stärkt auch die EU mittels eines Richtlinienpakets das Recht der EU-Bürger, sich selbst oder gemeinschaftlich mit lokalem Strom zu versorgen.

 

So wurde „Places matter“, die lokale Wertschöpfung vor Ort, speziell in der Energieerzeugung als Zukunftsmarkt und neue Normalität etabliert. Beschleunigt wurde das natürlich auch durch den dezentralen Charakter von Photovoltaik und Windenergie. Diese günstigen Voraussetzungen sind hierzulande jedoch gefährdet, da die aktuellen Marktanreize bei Wind- und Solarenergie lokale Wertschöpfung eher verhindern, als sie zu fördern.

 

Es ist leider symptomatisch für die Zukunftsverzagtheit unserer Gesellschaft, dass eine größere Berichterstattung über die Erfolge der Energiewende praktisch nicht stattfindet. Fast die Hälfte der erneuerbaren Erzeugungsanlagen in Deutschland gehen auf die Initiative von Bürgerinnen und Bürgern zurück, dazu gehören Privatleute, Landwirte und Energiegenossenschaften.

 

Umfragen belegen, dass Bürgerenergieanlagen nach wie vor auf großes Interesse seitens der Bevölkerung stoßen. Fast jeder fünfte Bundesbürger bestätigt, bereits in eine Erneuerbare-Energie-Anlage investiert zu haben. Und dies mit guten Erfahrungen, denn 88 Prozent würden es wieder tun, wie die Forscher von Agora herausgefunden haben.

 

Teilhabe, das zeigen viele gelungene Projekte der Bürgerenergie, besteht eben nicht nur darin, die Bürger über Veränderung „in Kenntnis zu setzen“. Schlechterdings alle können von einer Energiewende vor Ort profitieren.

Das macht horizontale Netzwerke so wertvoll. Transformationsprojekte wie die Bürgerenergie und die nachhaltige Modernisierung Kopenhagens dokumentieren, wie neuartige Wege der Wertschöpfung gegangen werden können und dabei virulente gesellschaftliche Themen adressiert werden können.

 

Drei Einsichten erscheinen hier besonders wichtig:

 

• Zeitgemäße Technologien eröffnen häufig Teilhabe-Chancen: Wir sollten uns die Projekte der Nachbarschafts- und Bürgerenergie für weitere Transformationsvorhaben (Mobilität, Landwirtschaft, Wohnungsmarkt ...) zum Vorbild nehmen, gerade weil sie eine technosoziale Innovation darstellen.
Technologien allein bringen niemals die Lösung und führen nicht automatisch zu Wohlstandsgewinnen. Doch mithilfe horizontaler Netzwerke sind technologische Disruptionen wichtige Vehikel, um gesellschaftliche Spaltung (grüne Jobs vor Ort) zu bekämpfen und Zukunft zu gestalten.

 

• „Vor Ort“ lagert der Datenschatz der Zukunft: In den Städten und Kommunen lagert überdies ein einzigartiges, in Daten ablesbares Wissen darüber, wie Menschen ihren Alltag gestalten und mit welchen Engpässen sie wie zurechtkommen.
Eine zentrale Aufgabe bei der künftigen Pflege und Weiterentwicklung horizontaler Netzwerke wird es deshalb sein, den „hiesigen Datenschatz“ im Sinne der Menschen und der Ökonomie vor Ort zu heben. Anders gesagt: Nur mithilfe der „lebensnahen Daten“ vor Ort lassen sich substanzielle Veränderungen in den Lebensstilen tatsächlich umsetzen.

 

• Strategische Depolitisierung: Strategische Depolitisierung vor Ort bedeutet schließlich, dass der sozioökonomische Nutzen für die Stadt oder die Region und vor allem für die Menschen vor Ort im Mittelpunkt eines jeden nachhaltigen Transformationsvorhabens stehen sollte. 
In den USA hat sich die „Politisierung des Alltags“ derart in die DNA der Gesellschaft hineingefressen, dass sich an der Postleitzahl, ja an der Straße, in der man wohnt, und an dem Supermarkt, den man frequentiert, ablesen lässt, wer republikanisch und wer demokratisch wählt.
Nationale Politik, wahrgenommen als Schlammschlacht in Social Media und TV, hat hier die einstmals so gepriesene „Neighbourhood“ fast komplett zerstört. Funktionierende horizontale Netzwerke verpflichten Wirtschaft und Politik dagegen darauf, kurzfristige Interessen (Profite, Wiederwahl) zugunsten des Allgemeinwohls zurückzustellen. „Places matter“ stützt so die Kohäsionskräfte vor Ort.

 

Zuerst erschienen in Handelsblatt, 21. Juli 2021.