Energiewende: Wie uns die große Transformation im Kampf gegen den Klimawandel gelingen kann

Maßnahmen gegen den Klimawandel erreichen uns oft mit dem Sound der letzten Chance. Ausgerechnet aus den USA kommt ein Konzept, das Optimismus versprüht

 

Als Beobachter internationaler Entwicklungen traut man es sich eigentlich gar nicht mehr zu sagen. Aber könnte es vielleicht sein, dass von den Amerikanern zu lernen doch wieder bedeutet, die Zukunft zu gewinnen?

 

Es ist Wahlkampf in den USA. Mit der Aussicht, gegen Ende des Jahres mehr als 200.000 Covid-19-Todesopfer beklagen zu müssen, befinden sich die Vereinigten Staaten wahrscheinlich in der größten Krise seit dem Vietnam-Desaster.

 

Ungleichheit betrifft die Bürger der USA wie in kaum einem anderen Land. Nach wie vor ist der Alltag von Rassismus geprägt, was das einstmals selbstbewusste Land – beschleunigt durch Covid-19 und außer Kontrolle geratene Polizeigewalt – immer mehr wie ein „Failed State“ erscheinen lässt. Ein großer Wandel muss her.

 

Vielleicht sollten wir uns erst einmal fragen, was wir eigentlich meinen, wenn wir von der „großen Transformation“ sprechen. Ich denke, wir müssen eine Sprache dafür finden, die klar ist und das Gefühl vermittelt, dass wir das schaffen können.

 

In Debatten, in denen es um die Zukunft unseres Planeten geht, ist es deshalb besonders wichtig, den Begriff Transformation schnellstmöglich aus dem Elfenbeinturm der Akademiker und Technokraten zu befreien und so zu erklären, dass er an jedem Küchentisch dieses Landes verstanden werden kann.

 

Große Transformation bedeutet dann, unser altes, auf fossilen Energieträgern basierendes System (Öl, Kohle, Verbrennungsmotoren) durch ein neues (Elektroauto, Solarmodule, Energiespeicher, Wärmepumpe) zu ersetzen, ohne dabei die Idee der Marktwirtschaft aufzugeben.

 

Einfache Worte, klare Thesen

US-amerikanische Forscher liefern mit „Rewiring America“ ein schlüsselfertiges und umsetzbares Konzept einer großen Transformation. In den kommenden drei bis fünf Jahren müssten die entscheidenden Industrien auf die Elektrifizierung umgestellt werden: Viermal so viele Elektroautos wie bisher, 16-faches Wachstum in der Produktion von Stromspeichern, die Verzwölffachung der Produktion von Windturbinen und eine Verzehnfachung in der Produktion von Solarmodulen.

 

Das neue System lässt sich darin bis auf die Kosten für einen US-amerikanischen Durchschnittshaushalt herunterbrechen. Jeder Haushalt, das haben die Forscher errechnet, benötigt lediglich 40.000 US-Dollar für Solarpanele auf dem Dach, eine Wärmepumpe am Haus, einen Stromspeicher im Keller und ein Elektroauto in der Garage.

 

Wo soll das Geld herkommen? Um es gleich zu sagen: Die Anreize der CO2-Steuer sind dafür nicht ausreichend. Mit 15 bis 19 Prozent Kreditkartenzinsen geht das auch nicht. Der Staat müsste einen Zinssatz von 3,5 bis vier Prozent garantieren, damit die US-Bürger ihre eigenen vier Wände auf die Technologien des 21. Jahrhunderts umrüsten können.

 

Saul Griffith, der Frontmann von „Rewiring America“, ist ein ausgesprochener Optimist und hat in den vergangenen Jahren gigantische Datenmengen zum Energieverbrauch in den USA gewälzt. Aber Griffith hat das aus einem besonderen Blickwinkel getan. Ihm ging es nicht um den Energieverbrauch einzelner Branchen oder Regionen. Er wollte grundlegender wissen, wie Energieströme in den USA zirkulieren.

 

Daraus entwickelte Griffith eine erste bahnbrechende These: Wer die USA dekarbonisieren (null Öl und Erdgas) möchte, der muss den Verbrauch bei Wohnen, Strom und Verkehr sektorenübergreifend analysieren.

 

Einsparungen in der Summe

„Rewiring America“ hat dies in einem gigantischen Dashboard dargestellt. Daraus leitete Griffith dann folgende Erkenntnis ab: Die Dekarbonisierung der USA ist nur durch die Elektrifizierung aller Lebensbereiche möglich, sprich Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen, Energiespeicher. Laut Griffith führt die grundlegende Umstellung von einer fossilen in eine postfossile Wirtschaft dann dazu, dass nur noch die Hälfte der bislang aufgewendeten Energie nötig ist.

 

Die kohlenstofffreie Wirtschaft funktioniert nur, wenn die Infrastruktur radikal modernisiert wird. Allein die Dekarbonisierung, in Verbindung mit der weiteren Digitalisierung und Dezentralisierung der Infrastrukturen, würde zu diesen gigantischen Effizienzsprüngen führen. Woher sollen diese gigantischen Einsparungen kommen?

 

• Elektrofahrzeuge erzeugen ihre Leistung deutlich effizienter als Verbrennungsmotoren

• die Produktion fossiler Energien, die zehn Prozent des US-Energieaufwands ausmacht, fällt weg

• das Abschalten der fossilen Großkraftwerke reduziert weitere 15 Prozent der Energienutzung

• die Elektrifizierung des Wohnens hilft, zwischen sechs und neun Prozent der Energie einzusparen

• die Verwandlung von Rohöl in Sprit nimmt in den USA vier bis fünf Prozent in Anspruch

• Veränderungen in der Industrieproduktion schlagen mit weiteren fünf Prozent zu Buche

 

Vorbild für die Idee einer USA 2.0 ist immer wieder Franklin D. Roosevelts New Deal. Roosevelts große Transformation verschlang laut „Rewiring America“ insgesamt 1,8 Prozent des US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP), um den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Für die Dekarbonisierung der Vereinigten Staaten in den kommenden zehn Jahren müssten dagegen nur zwischen 1,2 und 1,5 Prozent des BIP investiert werden.

 

Den Optimismus, dass eine solche gigantische Transformation wirklich möglich ist, bezieht „Rewiring America“ ebenfalls aus Roosevelts Innovationspolitik in den 1930er- und 1940er-Jahren. Auch die Einführung des Autos als „Mobilitätsoption des 20. Jahrhunderts“ ließ sich nur durch kluge Finanzierungs- und clevere Versicherungsmodelle realisieren. Der Aufbruch der USA in Jahrzehnte des Wohlstands nach 1945 fußte auf einer Politik der Demokratisierung des Wohneigentums, die von dreißigjährigen Staatskrediten getragen wurde.

 

Der Staat schiebt an, ohne die Macht zu übernehmen

Radikaler Wandel ist möglich, ohne in eine sozialistische Kommandowirtschaft abzugleiten. Öffentliche Investitionen versteht der Zukunftsplan von „Rewiring America“ als Anschub für die Privatwirtschaft und nicht als Übergriffigkeit des Staates. Dieser regiert nicht autoritär und protektionistisch im Alleingang, sondern mit der Autorität desjenigen, der kompetent und verantwortungsvoll Zukunft für das Gemeinwesen entwirft.

 

Joe Bidens Programm des Wiederaufbaus sieht für den Klimaschutz gigantische Investitionen in Höhe von zwei Billionen US-Dollar vor. Dabei glaubt Biden nach wie vor an die CO2-Sequestrierung – die schlicht noch nicht funktioniert –, während die Transformation von „Rewiring America“ komplett mit bereits vorhandenen Technologien vonstatten gehen soll. Doch vieles bei Biden ähnelt dem beschriebenen Programm bis in einzelne Formulierungen hinein.

 

In den krisengeplagten USA macht die Angst vor einer großen Transformation der Lust an einem Neuanfang Platz.

 

Zuerst erschienen in Handelsblatt, 08.09.2020