Privatisierung und Deregulierung sollten uns in eine neue Zeit führen: bessere Dienstleistungen, kreative Märkte, Wahlfreiheit. Jetzt merken wir, dass wir uns dadurch als Gesellschaft „selbentmachtet“ haben. Um Gesundheit, Wohnen und Stadtleben zu erhalten, müssen wir umsteuern
Zu Beginn der 1990er Jahre haben wir vieles, was unter dem Begriff der Liberalisierung oder Deregulierung stattfand, begrüßt. Das klang nach neuer Zeit und abgeschnittenen alten Bärten. Nach der kulturellen Revolution durch die 68er-Bewegung und dem angeblichen „Ende der Geschichte“, eingeleitet durch den Mauerfall 1989, erlebten wir den Freiheitsmoment der „Neuen Märkte“, der Computertechnologie und des Internets.
Alte Institutionen wie die Gewerkschaften hatten sich längst in ihrem Filz und in ihrer organisatorischen Korruptheit selbst unmöglich gemacht. Wer brauchte das noch. Wir würden fortan in einer modernen Dienstleistungswelt leben, in der bekannte Leistungen der Daseinsvorsorge dem Grau-in-Grau der staatlichen Planwirtschaft entzogen würden und neues Leben in bunten und phantasievollen Geschäftsmodellen kreativer Jungunternehmen eingehaucht bekämen. Noch nie war so viel (Wahl-)Freiheit!
Wirklich?
Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben uns eines Besseren belehrt. Mittlerweile wissen wir: Wenn man zentrale Leistungen der Daseinsvorsorge (Gesundheit, Wohnen, Müll, Strom, Kultur, Bildung, Krankenhäuser) aus der staatlichen Kontrolle entfernt, privatisiert, und in der ökonomischen Sphäre ansiedelt, wechselt die Dienstleistung nicht nur den Eigentümer – sie läuft auch Gefahr, der Allgemeinheit entzogen zu werden.
Aus Gesundheit wird Wellness, aus Bürgern werden Konsumenten
Auf dem Gesundheitssektor funktioniert das konkret so: Indem die Krankenkassen so etwas wie Physiotherapien verknappen, entziehen sie die Gesunderhaltung dem Zugriff von allen (vor allem von Bedürftigen). Gleichzeitig wird dadurch ein Bedarf nach Gesunderhaltung geschaffen, der von einem Unternehmen und einer Geschäftsidee kommerziell genutzt werden kann. Aus Gesundheit wird Wellness. Die Wellnessbehandlung kann sich in der Regel jedoch die gebrechliche älter Dame nicht mehr leisten. Dafür avanciert Wellness zum Konsumtrend für Gesundheitsbewusste, hauptsächlich Angehörige der Mittelschicht, die gerne für personalisierte Gesundheit etwas mehr bezahlen.
Und noch jemand profitiert: Der Staat kann sich auf diese Weise verschlanken und demonstriert Stärke und Handlungsfähigkeit, indem er „Annehmlichkeiten des Wohlfahrtsstaates“ reduziert (ein Hauptanliegen von Neoliberalen wie Margret Thatcher und Ronald Reagan). Aus staatlicher Daseinsvorsorge wird ein Markt, aus Bürgern werden Kunden (sozial Schwache finden mit ihren Bedürfnissen immer weniger Berücksichtigung).
Margret Thatcher war eine wahre Meisterin der Entstaatlichungspolitik in kleinen Schritten, bei der jedoch nichts weniger geschah, als die Aufgaben von Staat und Markt neu zu definieren. Thatcher begann in Großbritannien Anfang der 1980er Jahre mit der vorsichtigen Liberalisierung des Fernbusverkehrs, um wenig später die radikale Privatisierung der britischen Eisenbahn umzusetzen.
Unsichtbare Schritte zur „Marktgesellschaft“
Der Taschenspielertrick der Wirtschaftsliberalen, um den es mir hier geht, funktioniert in zwei Schritten: 1. Indem aus staatlicher Fürsorge (Krankengymnastik) durch Deregulierug ein Markt entsteht, werden Bürger zu Konsumenten, die für die „freie“ Wahl von Dienstleistungen bezahlen. 2. Indem Bürger zu Konsumenten werden, ist es jeder einzelne von uns, der – indem er die Dienstleistungen als Ware kauft – die Transformation von der garantierten Versorgung zur Marktlösung unbewusst sanktioniert. Man könnte das die elegante „Mikropolitik einer Marktgesellschaft“ nennen, die sich dadurch auszeichnet, dass wir als Individuen zu den konsumierend-genussorientierten Motoren einer „Vermarktlichung“ werden (und wer liebt es nicht, unter einer Vielzahl von Angeboten auswählen zu können), die uns zu scheinbar souveränen Konsumbürgern befördert und zu Mikrorevolutionären, indem wir als zahlungskräftige Mittelschichtler immer mehr individuelle Kaufentscheidungen aneinander reihen.
Der Soziologe Grégoire Chamayou sieht darin einen epochemachenden Vorgang am Werk, der im Laufe der 1980er Jahre aus der grundsätzlichen Frage der „Wahl einer Gesellschaft“ (In welcher Gesellschaft wollen wir leben?) das neoliberale Modell der „Gesellschaft der Wahl“ (Welchen Gesundheitstrend kaufe ich mir als nächstes?) werden ließ.
Wohnungsmarkt: Deregulierung verhindert Innovation
Nirgends spitzen sich gerade die Auswirkungen unserer „Gesellschaft der Wahl“ seit längerem mehr zu als auf dem Wohnungsmarkt. Hier argumentieren Oberbürgermeister, Architekten und Stadtplaner mittlerweile mit Begrifflichkeiten, die man vor zehn Jahren der linksradikalen Szene zugeschrieben hätte. Das Recht auf Wohnen stehe auf dem Spiel. „Der globale Immobilienmarkt ist heute selbst aus der „Innnensicht out of control“. Immobilien existieren vielfach nur noch als abstrakte Börsenwerte. Binnen einer Stunde können ganze Stadtteile 35 Mal verkauft, gekauft oder verschuldet werden“, so der Architekt und Stadtplaner Ernst Huebli.
Deregulierung hat Wohnen vielerorts unbezahlbar gemacht, vertieft Ungleichheit und ist obendrein innovationsfeindlich. Denn dadurch, dass der freie Wohnungsmarkt keinen Konkurrenten durch den gemeinnützigen Wohnungsmarkt hat, wird seit Jahrzehnten 4-ZKB-Standard gebaut, was dem kleinbürgerlichen Familienbild der 1950er Jahre entspricht.
Und spätestens an diesem Punkt schlägt die Freiheit und Fortschritt versprechende Liberalisierung des Marktes in ihr Gegenteil um. Wo nur noch nach Schema F gebaut wird, wird an den Lebensstiländerungen und Bedürfnissen der Menschen vorbei gebaut. Die Liberalisierung des Wohnungsmarktes hat mit einem Wort in erster Linie zu Trendignoranz und architektonischer Ödnis geführt. Deregulierung dient nur noch den Wohnungsbaugesellschaften - die lebendigen Stadtgesellschaften (Kern einer bürgerlich-demokratischen Öffentlichkeit) gehen vor die Hunde.
Keine Frage, Grund und Boden sind grundsätzlich unvermehrbar und deswegen ein besonderes Objekt kommerzieller Begierde. Deswegen macht sich mittlerweile auch Innenminister Horst Seehofer für eine Bodenreform stark. Das schöne Dresden hatte sich 2006 von seinem gesamten kommunalen Wohnungsbestand getrennt, musste dann aber einsehen, dass es eigene Wohnungen braucht, um den Wohnungsmarkt sozial gestalten zu können. In Berlin sollen große Wohnungsbaukonzerne enteignet werden, drei Gutachten bestätigen, dass das verfassungskonform ist. Es gibt deutschlandweit mittlerweile mehr als 150 Kommunen, die Versorgungsleistungen (vor allem Energie) wieder unter ihr Dach zurückholen, man nennt das Rekommunalisierung. Die Kommunen nutzen die niedrigen Zinsen, um Wohnungen, Krankenhäuser und Energiebetriebe zurückzukaufen.
Hieraus ergeben sich vier Lehren für die Zukunft (dabei geht es vor allem darum, was wir künftig von Staat und Märkten verlangen sollten):
• Seien wir skeptisch, wenn man uns verspricht, Deregulierung und Privatisierung einer Dienstleistung würden unsere Lebensqualität steigern – es steckt oft der Versuch dahinter, Sozialabbau zu betreiben und Bedürftige abzuschneiden.
• Werden wir uns unseren Bedürfnissen bewusst. Also immer prüfen: Versteckt sich in der Freiheit zur kommerziellen Produktwahl möglicherweise nicht ein Zwang zum Konsum von Dienstleistungen (Gesundheit, Freizeit), die besser und sozialverträglicher bei öffentlichen Trägern aufgehoben wären?
• Schauen wir über unsere spontanen Impulse hinaus. Welche Bedeutung (für uns persönlich und das Gemeinwohl) hat eine individuelle Wahlfreiheit, bei der wir über Konsumvarianten entscheiden, aber nicht darüber, wie wir grundlegend unsere Lebensstile beispielsweise im Sinne der sozial-ökologischen Nachhaltigkeit ändern können?
• Wir sollten die „Marktgesellschaft“, an der wir im Westen seit den 1980er Jahren arbeiten, stärker unter Rechtfertigungszwang stellen: Entsteht hier ein Markt, um den Wohlfahrtsstaat zu schleifen, wird dadurch Ungleichheit befördert – oder liefert ein neuer Markt innovative Impulse für die Lösung der wichtigsten Zukunftsfragen: Klimawandel und Ungleichheit.
Zukunftsmärkte, die diese Bezeichnung verdienen, wiegen den Verbraucher nicht in der Illusion der Wahlfreiheit, sondern liefern Lösungen für existenzielle Probleme.
Zuerst erschienen in Handelsblatt, 24.07.2020