- Vor allem die Tüchtigen und Selfmade-Männer neigen zu Verschwörungstheorien, weil sie dort eine kontrollierbare Welt geboten bekommen.
- Das Klammern an „Normalität“ ist ein Zeichen fundamentaler Verunsicherung und spielt in populistischen Strategien eine zentrale Rolle.
- Statt uns an „Normalität“ zu klammern, müssen wir jetzt Zukunftsräume für alle aufstoßen.
Corona hat mit rasanter Geschwindigkeit fundamentale Gewissheiten zertrümmert: Ich darf mich meinem Gegenüber nicht annähern, sollte ihm gegebenenfalls ausweichen, außerdem mein Gesicht verhüllen, um mich und den Anderen vor einer gefährlichen Infektion zu schützen. Die Mitwelt als Bedrohung. Diese fundamentale Verunsicherung (einhergehend mit rigiden Verhaltensvorschriften)
In der Pandemie musste ein Tabu überschritten werden. Seit Corona reguliert der Staat unsere Körper, organisiert unsere Vitalität. Der Staat macht Biopolitik, er rückt uns mit seinen politischen Vorgaben bis an den Körper heran und schreibt uns vor, wie wir uns in der Öffentlichkeit zu verhalten haben. Zumutungen, die wir bislang in unserer liberalen Erlebnisgesellschaft schlicht nicht kannten.
Erfolgsparadox und der Karneval des Hasses
Als sich dann im Mai abzeichnete, dass Deutschland die Pandemie in den Griff bekommt, regte sich erste Unzufriedenheit. Das Corona-Erfolgs-Paradox sprang an: Auf sogenannten „Hygienedemonstrationen“ wurde gegen Überwachung und für die Lockerung der Corona-Maßnahmen demonstriert.
Aber waren das wirklich Demonstrationen?
Die Szenerien während der „Hygienedemonstrationen“ in Berlin, Frankfurt, Stuttgart, München und vielen kleineren Städten Ostdeutschlands erinnerten auf den ersten Blick an Karneval und Kirmes. Bei genauerem Hinsehen jedoch an einen skurrilen Karneval des Hasses und der Desorientierung. Die Akteure rekrutieren sich aus einem obskuren Milieu aus Esoterikern, Nazis, so genannten „völkischen Siedlern“, Reichsbürgern, radikalen Impfgegnern, Alternativen mit „Querdenkerbommel“, Jesus Freaks und Holocaust-Leugnern.
In den einschlägigen Talkshows wurde davon geraunt, dass sich neue Allianzen formieren. Ja, es war die Rede von einer neuen Querfront. Vierzehn Tage später kam es zu Gewittern und irgendwann startete die Bundesliga auch wieder. Der Protest war kein Protest, sondern eine Zurschaustellung von diffusen Ängsten, vorgetragen wie hier auf dem Heidelberger Universitätsplatz, wo sich am 18. April. 30 Verwirrte einfanden, um gegen die Corona-Vorschriften zu demonstrieren.
Eine neue Protestbewegung? Radikalisierte Mitte 2.0? Die neue gesellschaftliche Mitte? Definitiv nicht. Worum es geht: Um die verzweifelte Suche nach einer Normalität. Aber wer sich an ein abstraktes Konzept wie Normalität klammert, wird vor allem von einem beherrscht: nicht verarbeiteten Ängsten.
Wenn Normalität beschworen wird, ist oft der Populismus nicht weit
Ohne Zweifel bedenklich und alarmierend an diesem asymmetrischen Aufflackern einer Bewegung, die über keine Organisationsstruktur verfügt und sich ganz offensichtlich nicht über ein gemeinsames Ziel definiert, ist jedoch eine gesellschaftspolitische Dimension: es geht um existenzielle Ängste und um die simple Angst vor Wohlstandsverlusten. Das, was sich bei den „Hygienedemos“ im putzigen Managementsprech der 90er Jahre selbst als Querdenkertum ankündigte, war nichts anderes als der bange Versuch, ein die Wohlstandsnormalität bedrohendes Phänomen wie Corona durch gewaltsames Negieren ihres existenziellen Schreckens zu berauben.
Eine Form von Populismus also – auf den Kundgebungen (oder wie man das nennen möchte) aus der verzweifelten Hoffnung geboren, durch einen „Aufstand der Normalbürger“ wieder in eine geschäftsfähige Normalität zurückzufinden. Während der Rechtspopulismus der AfD an eine fingierte Normalität („Früher war alles besser“) appelliert, um denkgehemmte Wähler in ihrem angestbesetzten Normalitätsbewusstsein zu bestätigen und so zu willfährigen Wählern zu machen, beschwören die „Hygiene-Querdenker“ verzweifelt eine vor kurzem abhanden gekommene Normalität, um wieder an die Arbeit und ins Restaurant gehen zu können.
Zwei Kränkungen führten zum Abhandenkommen der Normalität
Doch diese Realitätsleugnung, dieser Eskapismus hat eine Vorgeschichte. Sie nährt sich aus einer vorangegangenen Kränkung, die durch den ökonomischen Zusammenbruch der Weltwirtschaftskrise 2007 bis 2009 entstand. Der marktgläubige Neoliberalismus war nicht nur ein aggressives Reklamieren des globalen Welthandels, des Privatbesitzes, der Finanzialisierung unserer Wirtschaft und der Deregulierung. Er hat auch ein Menschenbild geprägt - und das macht ihn zu einer gefährlichen Ideologie. Francis Fukuyama beschreibt dieses Menschenbild als „expressiven Individualismus“. Dahinter verbirgt sich ein Lebensentwurf, der im Grunde nur ein Ziel für den modernen Menschen kennt: die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse - dein narzisstisches Selbst sei die Maxime allen Handelns!
Machen wir uns klar, dass für die bundesdeutsche Mittelschicht, Bankenmitarbeitern, IT-Experten und vielen Fachleuten in technischen Berufen hierzulande im Laufe der Weltwirtschaftskrise eine Welt zusammengebrochen ist. Bis dahin hatten sie Alan Greenspan, Goldman Sachs und der westlichen Politik das neoliberale Mantra abgenommen: Reißt alle Handelshemmnisse nieder, Privatisiert alle Infrastrukturen, sorgt dafür, dass vor allem das Eigentum geschützt und der globale Handel unterstützt wird und überlasst die Märkte sich selbst, sie werden unseren Wohlstand automatisch mehren.
Eine zweite Kränkung nahm in den 2010er Jahren immer mehr Gestalt an: der Klimawandel und die planetaren Grenzen unseres Wirtschaftens. Für viele bedeutet auch das, eine monströse Realität zu verdrängen: Wachstum und unsere „moderne“ Lebensweise, das lernten wir gerade, ist nicht mehr vernünftig (wenn auch unsere Kinder ein gutes Leben haben sollen). Und jetzt die Zumutungen von Corona und Klimawandel. Beachtlich ist in beiden Fällen das Maß an Realitätsverleugnung, die militante Bereitschaft, Fakten zu ignorieren und die Verzweiflung, die dieser Wirklichkeitsverzerrung zugrunde liegt. Wenn das eigene Wohlstandskonzept zunehmend ins Rutschen gerät, beginnt die panische Suche nach einer „geordneten Normalität“, die es so aber nie gegeben hat.
Corona und die Selfmade-Männer: Warum ausgerechnet Leistungsträger zu Verschwörungstheorien neigen
Von hier aus wird verständlich, weswegen gerade auch Leistungsträger aus der hyperkomplexen Realität aussteigen. Sie haben gelernt mit praktischer Vernunft, solider Ausbildung und Arbeitsethos, Eigeninitiative und Führungsanspruch ihren eigenen Weg zu gehen, arrivierte Bundesbürger. Zu ihnen gehören selbstverständlich auch Personen wie Attila Hildmann, Xavier Naidoo und der schwäbische IT-Selfmademan, Michael Ballweg, der die „Querdenker“-Proteste in Stuttgart initiierte. Sie haben gelernt, dass es Erfolg bringt, Grenzen zu überschreiten und mutig zu sein. Sie sind es gewohnt, ihre Arbeitsumgebung zu kontrollieren – Corona dagegen ist für sie „Mayday“, der komplette Kontrollverlust.
Wir lernen, es sind nicht in erster Linie die Dummen und die Leichtgläubigen, sondern die Tüchtigen und die Macher, die sich in Verschwörungstheorien wiederfinden. Sie sehen im „behind-the-curtain“-Narrativ der Verschwörungsmythen die Chance zu einer Gegenelite. Das Internet suggeriert ihnen, ihre Gegen-Erzählung durch unzählige alternative Fakten und Gerüchte zu vervollständigen. Narzisstische Verschwörungstheoretiker, die ich kennen gelernt habe, sind oft fixe Denker, funktionieren hervorragend auf der kognitiven Ebene, aber auch das ist häufig ein Merkmal von Menschen, die ein prekäres Selbstbewusstsein permanent stabilisieren müssen. Zu was die Verschwörungstheoretiker indes nicht in der Lage sind, das heißt, sie können sich nicht selbst von außen betrachten, sie können sich selbst nicht in Frage stellen. Rationalität schlägt in ihr Gegenteil um: Verschwörungstheorien werden so schnell hochgradig plausibel.
Schauen wir jetzt auf Attila Hildmanns psychotische Auftritte oder führen wir uns Xavier Naidoos Kehre zu einem fremdenfeindlichen, faschistoiden Hassprediger (der trotzdem weiter in bundesdeutschen Sporthallen auftritt) vor Augen, verstehen wir, warum. Das Gefühl der Normalität, des Beherrschbaren und Kontrollierbaren ist abhandengekommen.
Deutsche Mittelschicht: die verzweifelte Suche nach einer Normalität, die es nicht gibt
Es wäre fahrlässig, gesellschaftlichen Protest nicht ernst zu nehmen. Aber die „neue gesellschaftliche Mitte“, die sich auf den „Hygienedemos“ angeblich zu einer revolutionären Kraft formierte, lässt sich tatsächlich nicht erkennen. Dass brav-empörte Impfgegner aus Burladingen neben AfD-Politikern und autoritätssehnsüchtigen Esoterikfans auf dem Cannstatter Wasen nebeneinanderstanden, wurde an ein paar Maiwochenenden des Corona-Jahres 2020 als Skandalon und revolutionärer Moment diskutiert. Ja, sie standen nebeneinander. Sie wussten allerdings nicht warum. Und sie hatten sich auch nichts zu sagen.
Das, was sich Ende Mai auf dem Cannstatter Wasen versammelte und wortlos nebeneinander stand, was in Berlin von dem Rechtspopulisten Ken Jebsen zu absurd-clownesken Protestformen wie einer „Ignorance Meditation“ aufgefordert wurde, ist ein verworren-bunter Karneval aus Verängstigten, Ratlosen, bizarren Spinnern – und Rechtsradikalen, die aus diesem diffusem Unbehagen rechte Protestwähler rekrutieren möchten.
Doch nicht alles, was sich auf der Straße tummelt, ist gleich eine umstürzlerische Bewegung. Und nicht alles, was unverständlich daherredet, zündet den Funken für eine konservative Revolution. Dass Menschen unter den miesen Arbeitsbedingungen und Sinnzumutungen der Gig Economy leiden, wissen wir mittlerweile. Gesellschaft und Politik haben in den kommenden Monaten einen harten Job zu tun. Wir müssen verängstigten und desorientierten Menschen besser erklären, wie wir mit den Zumutungen Corona und Klimawandel umgehen können.
Nicht an die alte Normalität klammern, sondern Zukunftsräume für alle aufstoßen
Wer sich an Normalitätsbegriffe klammert, ist tiefgreifend verunsichert. Ich bin sicher, dass wir Lebensstile entwickeln können, die mehr und neue Lebensqualitäten liefern als die „alte Normalität“. Wir brauchen einen Green New Deal, der die Klimakrise bekämpft und sinnvolle Jobs schafft. Wirkungsvoller als der klügste Diskurs und die vernünftigsten „Problemzusammenfassungskonferenzen“ sind konkrete Maßnahmen: Gute Jobs für Menschen, die in 30 Jahren Neoliberalismus schlechterdings nicht mehr vorgekommen sind. In den Erneuerbaren Energien entstehen weltweit schon jetzt mehr Jobs als in den fossilen Energien. Mehr Jobs, besser bezahlte Jobs und auch deutlich mehr Jobs für Frauen. Die Signale, die Proteste wie die „Hygienedemos“ aussenden, sollten wir ernstnehmen und zeigen, dass wir Angst, Orientierungslosigkeit und Verwirrung verstehen können. Am Ende gibt es nichts Besseres gegen Rechtsesoteriker und Hassprediger als eine Zukunftsperspektive für alle – vor allem für die Verunsicherten und Nichtbeachteten.