Keine Angst vor dem Staat, denn seine Gestaltungsmöglichkeiten sind enorm. Und Aufgaben wie Klimawandel und Ungleichheit schreien nach einer fundamentalen Neuorientierung von Wirtschaft und Gesellschaft.
Schon am 10. April, mitten im Tumult der Coronakrise, wurde errechnet, dass weltweite staatliche Eingriffe in Höhe von 10,6 Billionen US-Dollar notwendig sein würden, um das Schlimmste für die Bevölkerung zu verhindern, Arbeitsplätze zu erhalten und Unternehmen zu retten.
Wie könnte ein Staats-Design für die kommenden Jahre aussehen? Wir brauchen einen Staat, der unsere Infrastrukturen (Gesundheit, Mobilität, Energie, Wohnen) als Lebensadern wertschätzt und digitale Teilhabe für alle ermöglicht. Ein moderner Staat in der post-corona Welt erkennt den zukunftsentscheidenden Wert von Daten und unterstützt Unternehmen auf dem Weg in eine Ökonomie, die gerechter, effizienter und naturverbundener ist.
Sechs Handlungsempfehlungen, wie sich staatliches Handeln angesichts der großen Herausforderungen der kommenden Jahre neu erfinden muss.
1. Frühwarnsysteme bauen
Der Staat der Zukunft versteht Megatrends und baut daraus Frühwarnsysteme. Eng an Wissenschaft und Forschung orientiert, moderiert er unseren Weg zu nachhaltigeren Lebensstilen.
Der Staat war in der Neuzeit schon immer dazu da, Leitplanken zu setzen, nicht zuletzt, weil der einzelne nicht alles selbst entscheiden kann. In den kommenden Jahren wird ein zukunftsfähiger Staat vor allem Leitplanken für unsere Konsumgesellschaft aufstellen müssen. Corona führt uns schmerzhaft vor Augen, wie unzulänglich unsere Wertschöpfungsketten, wie naiv unsere Sicherheitssysteme, wie selbstgerecht unsere Wohlstandserwartungen waren. Vor allem aber: dass unsere „imperiale Lebensweise“ die planetaren Grenzen überschritten hat.
Ein verantwortungsbewusster Staat muss sich mit Megatrends wie dem Klimawandel, Ungleichheit, Energiewende, Digitalisierung, Alterung, Mobilitätswende und einigen mehr auseinandersetzen. Megatrends haben es an sich, dass man sich ihnen nicht entziehen kann. Sie prägen unser Handeln in den kommenden 30 bis 50 Jahren – je schneller und entschlossener wir sie in den Blick nehmen, umso besser. Aus unserer wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Megatrends lässt sich ableiten, dass eigentlich nur demokratische Staaten in enger Kooperation mit transnationalen Institutionen (EU, UNO, WHO) in der Lage sind, eine solche anspruchsvolle Navigation entlang der unausweichlichen Veränderungstreiber unserer Welt zu übernehmen. Wer sich rechtzeitig den Megatrends aussetzt, erhält eine Zukunftsdividende in Form von krisentauglichen und kreativen Frühwarnsystemen, die das Tor in eine planbare Welt von morgen aufstoßen.
In den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts haben wir es speziell mit zwei eskalierten Megatrends zu tun, die sofortiges Handeln erfordern: Klimawandel und Ungleichheit.
2. Inkubator des Neuen
Der Staat der Zukunft agiert als Beobachter zweiter Ordnung: Er ist nicht allwissend und nicht der Aufpasser der Unternehmen, seine Aufgabe besteht darin, den Übergang in die postfossile Ära zu gestalten.
Welche Werkzeuge sind dafür notwendig? Der Staat muss sich als Beobachter zweiter Ordnung für einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Neuanfang aufstellen. Ein gestaltender Staat rivalisiert nicht mit den Experten, sondern baut die Expertise in sein Gesamtbild ein. Angesichts der Risikolage, wie sie sich durch die Pandemie, den Klimawandel und die Polarisierung unserer Gesellschaft ergibt, kann sich der Staat der Zukunft keine „blinden Flecken“ in der Beobachtung der Realität mehr leisten. Als informierter und einordnender Staat ist er nicht allmächtig und unantastbar, sondern begreift sich als Teil der Gemeinschaft, innerhalb der er fehlbare, aber wissensbasierte Entscheidungen treffen muss.
Als Beobachter zweiter Ordnung fällt dem zukunftsfähigen Staat in den kommenden Jahren die Aufgabe zu, nicht nur, „jene Entscheidungen zu treffen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft“, wie es der britische Ökonom John Maynard Keynes formulierte, sondern auf allen relevanten Zukunftsfeldern Impulse zu setzen, ohne dabei Unternehmen oder der Zivilgesellschaft Vorschriften zu machen. Ein zukunftsfähiger Staat ist ein sachorientierter und sorgfältiger Staat, er fokussiert das Neue in enger Abstimmung mit Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft.
3. Der forschende Staat
Gerade in Zeiten von Corona, Klimawandel und Ungleichheit brauchen wir einen trendsicheren Staat, einen „developmental state“, der zum Motor für die soziale und technologische Modernisierung wird.
Der Staat am Beginn der 2020er Jahre ist besonders gut darin sein, technologische, sozioökonomische oder medizinische Entwicklungen auch in der Latenzphase zu identifizieren und in dieser - für Unternehmen zu riskanten - Frühphase zu fördern (Scheitern dabei nicht ausgeschlossen). Schaut man in die Werbespots der vergangenen Jahre, ist klar, wer allein auf dieser Welt für das bahnbrechend Neue sorgt: Apple, Google, Facebook, Microsoft. Sie gelten als die Heilsbringer der Markt-Disruption und der Zukunftstechnologien. Dieses Innovations-Narrativ hat jedoch noch nie gestimmt. Die MP3-Technologie, die Apples Wiedergeburt 2001 begründete, wurde in den 1990er Jahren in Deutschland von der Fraunhofer Gesellschaft in Erlangen und Illmenau entwickelt. Das Geld dafür stammt aus staatlicher Grundlagenforschung. Die ersten Schritte der revolutionären Technologie finanzierten also der Staat und seine Steuerzahler.
Schon immer wurde bei der Entwicklung des Mobilfunks ein Großteil der Innovationstechnologien nicht von den Apples und Samsungs „erfunden“, sondern sie basieren auf universitärer und staatlicher Forschung. Staatliche Förderung steht darüber hinaus am Beginn unzähliger Durchbrüche in der Medizin. Ohne die Forschungsgelder aus öffentlichen Töpfen wären Durchbrüche bei einer Vielzahl von Medikamenten niemals zustande gekommen. Nicht weniger als 75 Prozent der tatsächlichen Produktneuheiten in der US-Pharmaindustrie zwischen 1970 und 2004 gehen auf staatlich finanzierte Projekte der Grundlagenforschung zurück. Ein Staat, der sich zukunftsoffen und innovationsgetrieben verhält, verhindert keine Märkte. Ganz im Gegenteil, er unterstützt, beschleunigt, korrigiert und formuliert Visionen für eine sozial-ökologische Transformation, aus der sich künftig gigantische Marktchancen ergeben. Was trägt das Silicon Valley aktuell zur Eindämmung der Corona-Krise bei: Nichts! Google et. al. produziert, gemessen an den Auswirkungen der Pandemie, allenfalls noch höherwertiges Bling-Bling. Verantwortlich dafür sind die seit Jahren ausbleibenden Investitionen von Staat und Unternehmen in Forschung und Entwicklung (PDF).
4. Open Government
Der digital kompetente Staat avanciert zum „Hacker“ seiner eignen Kommunikationsstrategien: Politikverdrossenheit, Apathie und Populismus werden künftig vor allem durch digitale Partizipation bekämpft.
Ein wichtiger Bestandteil der DNA des zukunftsoffenen Staates ist die Digitalisierung. Staatliches Handeln angesichts von Klimawandel und Ungleichheit wird zukunftsfähig, wenn es beispielsweise aus Erfahrungen wie die der „Civic-Hacker“ aus Taiwan lernt. Audrey Tang gehörte den digitalen Aktivisten von g0v an und ist mittlerweile Taiwans Digitalministerin. In ihrer Arbeit verkörpert sich ein neuer Gestaltungsgeist, der der Logik der Open-Source-Bewegung verpflichtet ist. Die „Civic-Hacker“ liefern das Mindset, wie ein selbstbewusster Staat in Zukunft kommuniziert: mit flexiblen Werkzeugen, die schnell bereitstehen, der Situation angemessen sind, aber auch selbst sofort wieder gehackt werden können und so für permanente Neujustierung bereitstehen. Information, Transparenz, Orientierung, Mobilisierung, Teilhabe bis hin zur Intervention bei Gesetzesvorhaben – eine neue Robustheit in der Kommunikation zwischen Bürger und Staat.
In Taiwan waren es im Jahr 2014 das Sunflower Movement und die Besetzung des Parlamentes durch Protestierende, welche die Open-Source-Aktivistin Audrey Tang und ihre Gruppe dazu bewegten, durch blitzschnelle Berichterstattung und den Einsatz von digitalen Beteiligungs-Tools direkten Einfluss auf das umstrittene taiwanesisch-chinesischen Handelsabkommens (ECFA) zu nehmen. Zukunftsfähige Staaten, Kommunen und Verwaltungen sollten entsprechende Kommunikationswerkzeuge entwickeln (Clay Shirky bezeichnet sie als „situative Apps“ , die maßgeschneidert in gesellschaftspolitischen Debatten, bei Konflikten, bis hin zu Abstimmungsprozessen eingesetzt werden können. (Bekanntlich hat Taiwan mit seinen digitalen Frühwarnsystemen auch beim Ausbruch der Corona-Pandemie sehr erfolgreich reagiert.)
5. Bedingungsloses Wohlergehen
Marode Gesundheitssysteme und himmelschreiende Ungleichheit sind entscheidende Zukunftshemmnisse für die sozial-ökologische Transformatio. Ein umsichtiger Staat versteht, dass das Wohlergehen jedes einzelnen zukunftswichtig ist.
Die Corona-Krise zeigt - besonders deprimierend in den USA - dass Gesundheit auch in den Gesellschaften des Westens von Herkunft und Einkommen abhängt. Gesundheit wird vererbt. Insbesondere in das kaputte amerikanische Gesundheitssystem hat sich Ungleichheit mit brutaler Härte eingeschrieben: 70 Prozent der Corona-Toten in Chicago sind schwarz. Erschütternde Zahlen, die die Zerrissenheit und Dysfunktionalität der abdankenden Supermacht USA untermauern: failed state. In keinem anderen Land wird so viel Geld ins Gesundheitssystem gepumpt wie in den USA. Trotzdem geht die Lebenserwartung seit Jahren zurück.
Dass Katastrophen und Ausnahmesituationen das Verhältnis zwischen Staat und Bürger nachhaltig stärken können, zeigt der Blick auf Großbritannien in den 1940er Jahren. Überraschenderweise stieg in der Phase schlimmer Kriegswirren und des Hungers die Lebenserwartung bei Männern um 6,5 Jahre und bei Frauen um sieben Jahre (in den 1930ern waren es gerade einmal 1,2 Jahre bzw. 1,5 Jahre). Der simple Grund dafür: Knappe Lebensmittel wurden gerecht und vorausschauend zugeteilt. Der Staat legte besonderen Wert darauf, dass in den hart getroffenen Regionen in England und Wales die Rate der chronisch unterernährten Bevölkerung gesenkt wird. Aus diesem Spirit heraus entstand schließlich der National Health Service (NHS) und der britische Wohlfahrtsstaat.
6. Emanzipatorische Daten
Zukunftskompetenz heißt Datenkompetenz: Der Staat der Zukunft erkennt das emanzipatorische Potenzial kontrollierter Datennutzung.
In den kommenden Jahren wird es darauf ankommen, in Realzeit auf verlässliche Daten zurückgreifen zu können. Es zeichnet sich ab, dass Künstliche Intelligenz schon bei der nächsten Pandemie eine äußerst hilfreiche Rolle spielen kann (aber erst dann).
Ein vorsorglicher und vorausschauender Staat muss künftig darauf achten, dass Daten des öffentlichen Sektors nicht exklusiv von Dritten abgesaugt werden können. Deshalb muss der öffentliche Sektor schnellstmöglich einen transparenten Umgang mit Bürgerdaten (Gesundheit, Mobilität, Konsum etc.) organisieren, bevor sich private Datenkraken den Exklusivzugriff darauf sichern und wertvolles Wissen der gemeinschaftlichen Nutzung entzogen wird. Auch sensible Daten wie in der Gesundheitsversorgung können an Unternehmen weitergegeben werden, dabei sollten aber stets die Lizenzbedingungen offengelegt werden, damit auch eine alternative, möglicherweise sinnvollere Nutzung der Daten jederzeit möglich ist.
Keine Angst vor dem „Nanny-State“
Wenn Konservative im angelsächsischen Raum den freien Markt und ihre individuelle Freiheit bedroht sehen, dann beschwören sie das Bild eines wohlmeinend-übergriffigen Ungeheuers herauf: den „Nanny-State“. Selbstbewusstes staatliches Handeln, wie es für die sozial-ökologische Transformation in den kommenden Jahren wichtig wird, führt weder in den bevormundenden Staat noch in die Kontrollgesellschaft. Ein in dieser Weise robuster und zukunftsfähiger Staat ist weit davon entfernt, ein autoritärer Staat mit staatskapitalistischen Ambitionen zu sein. Wir brauchen keinen übergriffigen Staat à la Russland oder Türkei, ebenso wie wir keine profitmaximierenden Unternehmen mehr gebrauchen können. Risiken sozialisieren und Gewinne privatisieren, ist keine Lösung, das haben wir gelernt.