Das Virus lehrt uns unsere Schwächen – Vier strategische Antikörper gegen Corona

Leergefegte Straßen sind dieser Tage keine Seltenheit.
Leergefegte Straßen sind dieser Tage keine Seltenheit.

Corona macht uns Angst, weil wir den Lauf der Dinge nicht mehr gestalten können. Um Vertrauen in die Zukunft zu fassen, müssen wir uns neu orientieren.

Wir sitzen zu Hause herum wie Loriots Pantoffel-Opa. Doch im Unterschied zu ihm wollen wir nicht „einfach nur hier sitzen“. Wir sind zum Stillhalten verurteilt. Die Faktizität der pandemischen Bedrohung nagelt uns in unseren Büros, Küchen und Wohnzimmern fest. Eine falsche Bewegung könnte tödlich sein. Corona macht uns zu Zuschauern, zu Zaungästen des Lebens. Eine tiefe Kränkung: Radikale physische Entschleunigung, weil ansonsten gar nichts mehr weitergeht.

 

In dieser Situation sollten wir einen Neuanfang wagen. Wir brauchen neues Vertrauen in uns, in unsere Gesellschaft und die Ökonomie. Vier Strategien und Weichenstellungen, auf die wir uns verlassen können.

  • Wissen: Wissenschafts- und Faktenorientierung sind absolut unverzichtbar, denn einfache Wahrheiten helfen uns nicht dabei, komplexe Problemlösungskapazitäten aufzubauen.
  • Globalisierung: Globale Solidarität und Empathie sind ein weiterer Grundbaustein, denn nur als integrierte Weltgesellschaft werden wir schnell lernfähig und können unsere Strategien anpassen. Nicht nur Corona kennt keine Grenzen – auf Klima, Handel, Migration und Terrorismus trifft das auch zu.
  • Wirtschaft: Wir müssen uns von der Ära der Marktgläubigkeit und des neoliberalen Narzissmus verabschieden. Nur so gelingt nach Corona ein substanzieller Neustart, der planetare Grenzen respektiert und Ungleichheit bekämpft.
  • Individuum: Die Selbstermächtigung des Individuums in der digitalen Gesellschaft ist unerlässlich, denn nur durch mehr (digitale) Teilhabe und demokratischen Gemeinsinn können wir die nötige Robustheit in Gesellschaft und Gemeinschaft für die kommenden Herausforderungen erzeugen.

Corona macht vor Grenzen nicht halt und lehrt uns, dass wir unsere Probleme in Gegenwart und Zukunft nur international lösen können. Dafür brauchen wir eine weltumspannende globale Solidarität.

 

Die überforderte Trump-Regierung signalisiert, dass sie zu einer internationalen Führungsrolle nicht mehr fähig ist. Das G7-Krisentreffen wurde ohne Beschlüsse abgebrochen, weil die US-Delegation forderte, dass Corona als Wuhan-Virus gelabelt werden sollte.

Kompetente, digitale Vorreiter-Staaten

Um in dieser kommenden digital-nachhaltigen, von globaler Solidarität geprägten Weltgesellschaft gegen grenzüberschreitende Pandemien und Krisen aller Art immunisiert zu sein, müssen wir konsequent weiter an der Digitalisierung arbeiten. 

 

Diejenigen Staaten, die bislang am besten mit der Corona-Pandemie umgegangen sind, vor allem Südkorea und Taiwan, konnten sich auf digitale Informationsflüsse verlassen, auf eine hochgradig wissenschaftsbasierte Strategie und natürlich auch auf die Vorerfahrung mit dem Sars-Erreger. Taiwans junge Digitalministerin Audrey Tang ist direkt aus der „Civic-Hackers“-Gruppe in das Ministeramt befördert worden. Auf alle Hacks von Ministerin Tang können Coder eingreifen. Hacking ist der „digitale Antikörper“ einer Pandemie: Es liefert Werkzeuge, die sich permanent neuen Situationen anpassen. Und – selbstredend – entstehen die Hacks in der internationalen Community. 

 

Genau nach dieser Logik läuft momentan die globale Bekämpfung des Coronavirus ab: als vernetzter digitaler Prozess im Rahmen einer transnationalen Kooperation. Tang hat in Taiwan maßgeblich dazu beigetragen, mit digitalen Werkzeugen Demokratisierungs- und Teilhabeprozesse im Anschluss an die Sunflower-Bewegung und nach der Besetzung des taiwanischen Parlaments 2014 anzuschieben. Audrey Tang ist eine exemplarische Persönlichkeit, die unseren Neuanfang nach Corona prägen wird.   

Wir können uns Ungleichheit nicht mehr leisten

Dass die prekär Beschäftigten und Geringverdiener jetzt unsere Versorgung aufrechterhalten, unterstreicht die Schieflage unseres defizitären ökonomischen Systems. Längst wissen wir, dass Ungleichheit Wachstum bremst, was uns wiederum unfähig macht, in Zukunftstechnologien zu investieren und in humanen Krisen handlungsfähig zu bleiben. Dass Unternehmen und Forscher überhaupt so schnell reagieren konnten – immerhin befinden sich aktuell 50 Impfstoffe in Erarbeitung und Erprobung – haben wir den internationalen Kooperationen in der biotechnologischen Forschung zu verdanken.

 

Globale Solidarität heißt außerdem: Wir brauchen eine klare Weltinformationslage, bei der verantwortungsbewusste Wissenschaftler, Wirtschaftsentscheider, Politiker und Journalisten eine wichtige Rolle einnehmen. Die ersten Wochen der internationalen Kontaktsperren zeigen, dass unerwartet viele Menschen in seriöse Informationsportale stürmen und noch stärker auf Tageszeitungen und öffentlich-rechtliche Medien zurückgreifen, weil sie wissen, dass verlässliche Informationen jetzt wichtig sind und Sicherheit in der Krise geben.

 

Was für die Bewältigung der Coronakrise gilt – globale Solidarität, digitale Vernetzung, aktive Bürger – ist auch eins zu eins auf unser zukünftiges Klimafolgen-Management übertragbar. Auf lange Sicht ist die Klimaveränderung noch bedrohlicher als die Corona-Pandemie. Auch den Klimawandel können wir nur auf Basis von internationaler Vernetzung, Solidarität und Empathie bewältigen.

 

Klima und Corona erzeugen darüber hinaus eine gesellschaftliche Dynamik, die der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber als „Corona-Klima-Vertrag“ bezeichnet. Man könne es auf plakative Weise so ausdrücken, erklärte der Klimaforscher kürzlich in der „Frankfurter Rundschau“: „Wer achtlos das Virus weitergibt, gefährdet das Leben seiner Großeltern. Wer achtlos CO2 freisetzt, gefährdet das Leben seiner Enkel.“

 

Kommt jetzt also die Öko-Diktatur? Nein. Unsere demokratische Gesellschaft gibt uns die Freiheit, eine neue Welt aufzubauen, in der wir unabhängig vom Paradigma des 20. Jahrhunderts leben können: fossile Brennstoffe, Automobilität, Hyperkonsum. Und dafür brauchen wir jetzt eine weitere, entschiedene Investitionswende in Richtung der Pläne des Green New Deals, wie er unter anderem von der EU bereits vorgestellt wurde.

Die Ökonomie der Ich-linge ist am Ende

Mit einer Figur wie Donald Trump sehen wir noch einmal eine tragisch-lächerliche Figur, die stellvertretend für das narzisstische „Posing“ der letzten Jahre steht: Egoismus, Wissenschaftsleugnung, Verantwortungslosigkeit, Oligarchen-Politik. Der Politologe Francis Fukuyama spricht hier von „expressiven Individualismus“ – einer Welthaltung, die sich mit dem Neuen Markt Ende der 1990er-Jahre in unseren Köpfen verfestigt hat und nach der eigenen Selbstverwirklichungs-Dividende in allen Lebenslagen sucht. 

„Nur du machst die für dich verpflichtenden Gesetze, dein narzisstisches Selbst sei die Maxime deines Handelns“ – damit wurde aus Deregulierung, Privatisierung und neoliberalistischer Marktgläubigkeit eine knallharte Ideologie, die schließlich auch unseren Alltag durchdrang.

 

Natürlich führen Krisen nicht automatisch zu Neuanfängen, denn sie liefern in aller Regel keinen Beipackzettel mit den erlösenden Rezepturen für die kommenden Jahre. Aber die aktuelle Krise sollte uns wachrütteln und Lust darauf machen, es ab jetzt anders zu machen. Bis vor Kurzem lebten wir im Modus des schlafwandelnden Hyperkonsums. 

Jetzt ist die Gelegenheit zu lernen, dass es noch viele andere Formen der Lebensgestaltung gibt, die, wie ich behaupte, deutlich mehr Lebensqualität gestatten. Regionale Wertschöpfung, Energiewende, Kreislaufwirtschaft, Sharing, regenerative Landwirtschaft, Fleischverzicht, Peak Car, um nur eine Auswahl zu nennen.

 

Wenn wir jetzt nicht begreifen, dass wir einen alternativen und nachhaltigeren Lebensstil brauchen, werden wir es nie verstehen. Wir müssen an robusteren Lebensentwürfen (ebenso wie an nachhaltigeren Produktionsketten) arbeiten, solche, bei denen wir weniger konsumieren, aber wahrscheinlich sogar mehr Lebensqualität erzielen werden. Wir brauchen in der Wirtschaft andere Stabilisierungsmechanismen als die pure Wachstumsbeschleunigung. 

 

Eine Wirtschaft, die nach drei Tagen Stillstand in die Knie geht, ist nicht das, was wir für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts brauchen. Wir brauchen robustere Systeme. Wir sind verletzlicher, als wir gedacht haben. Wir müssen die unausweichlichen Wohlstandsverluste, die jetzt kommen werden, durch nachhaltige Lebensstiländerungen kompensieren.

 

Was ist die Rolle des Staates dabei? Krisen sind immer die Stunde der Exekutive. Wir brauchen einen selbstbewussten Staat, der seinen Bürgern eine Vision für die kommenden Jahre zu geben imstande ist. Der Green New Deal ist hierfür die Partitur. Die Angst, wonach wir jetzt in der Situation der Kontaktsperren in einen Überwachungsstaat abgleiten, teile ich nicht. Eine staatliche Führung auf der Höhe der Zeit ermächtigt seine Bürger, eigenständig mit den eigenen Daten umzugehen.


Dieser Artikel ist am 1. April 2020 als Kolumne von Eike Wenzel im Handelsblatt erschienen.