Warnung vor den Propheten oder wer kassiert die Corona-Dividende?

In Krisenzeiten haben geschäftstüchtige Heilspropheten und Kurpfuscher Hochkonjunktur. Ihre Werkzeuge ähneln denen der Populisten: verantwortungslos, faktenbefreit, aber - gottseidank - ohne Einfluss auf Entscheidungen.

Dienstag, 17. März 2020. Der Corona-Ausbruch verlangt weltweit dramatische Maßnahmen zur Eindämmung. An solchen Tagen weiß ich dann immer nicht, worüber ich mehr den Kopf schütteln soll: Über den einschlägig bekannten Gute-Laune-August und die Rosarote-Brille-Fraktion, die bereits nach einem Tag Krisenmaßnahmen weiß, dass alles danach unheimlich funky wird, oder die Consultants der letzten Tage, die bereits das Ende der Menschheit für besiegelt halten. Beide Positionen richten schweren Schaden an, weil zu wissen vorgeben, was passieren wird. (In ihrem prophetischen Klimbim unterscheiden sie sich nur graduell von den Alternativen Realitäten eines Trump, Bolsonaro und der AfD).

Der Gute-Laune-August lebt faktenbefreit

Sie verhöhnen die mühsame wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung, indem sie uns – frei von Argumenten - ausmalen, wie geläutert und zukunftssexy wir aus dieser Krise hervorgehen werden. Die Apokalyptiker spekulieren schon jetzt auf die Perpetuierung der Krise, um die Apokalypse in Büchern mit düsteren Überschriften zu beschwören, das weckt die Angstlust und hat schon vor 200 Jahren zuverlässig Auflagenzahlen getriggert.

 

Der Gute-Laune-August weiß nichts, hat immer schon faktenbefreit gelebt und verfolgt ebenfalls in erster Linie kommerzielle Interessen. Früher holte man sich das „Fürchtet-Euch-Nicht“ in der Kirche ab. Insbesondere entscheidungsunfähige Manager holen sich heute ihren Segen beim realitätsenthobenen Transzendentalbelletristen, der selbstverliebt um immergleiche Vokabeln wie Veränderung, Change, Reset mäandert.

 

Wenn ich seit Ausbruch der Krise zu Beginn dieser Woche durch LinkedIn, Facebook und andere Socialmedia streife, fällt mir auf, dass der Gute-Laune-August und der Apokalyptiker auf der gleichen Geschäftsgrundlage arbeiten: sie prophezeien höchstfragwürdige Gewissheiten („unser Leben nach Corona“), die Menschen in ihren Ängsten ansprechen und pseudowissenschaftliche Trostpflaster verteilen. Die Popularität der jeweiligen Narrative verspricht den Gurus eine Corona-Dividende, zumindest mediale Aufmerksamkeit für ein paar Minuten.

 

Wenn der Gute-Laune-August und der Apokalyptiker mit ihren hanebüchenen Prophezeiungen richtig lägen, bräuchten wir uns die Arbeit der wissenschaftlichen Prüfung und Beurteilung nicht zu machen. Die Realität ist jedoch, dass wir definitiv nicht wissen, wie die Corona-Krise verlaufen wird. Wir sind mit einem bedrohlichen und hochkomplexen Phänomen konfrontiert, das die permanente fachmännische Begutachtung von gut ausgebildeten Forschern und Ärzten braucht.

Wissenschaft schafft Vertrauen, weil sie nicht behauptet, alles zu wissen

Wir müssen ihrer Forschung und Erfahrung vertrauen. Wissenschaftliche Forschung ist niemals allwissend und fehlerfrei (wohingegen die einfältigen Zukunfts- und Apokalypsegurus angeblich wissen, wie es ausgeht).

 

Ohne die internationale Vernetzung von Zehntausenden kompetenter Experten wären wir dem Virus längst hilflos ausgeliefert. Wenn alles so hübsch bunt und bereits klar ist, bräuchten wir das überarbeitete Krankenhauspersonal nicht jeden Tag der Gefahr der Infektion auszusetzen. Ausgehverbote und Grenzschließungen könnten wir als überspannt schnellstens wieder ad acta legen.

 

Wissenschaftliches Handeln besteht angesichts der Corona-Krise darin, auf eine verlässliche Fakten- und Methodenbasis zurückgreifen zu können, aber die Strategien der Epidemiebekämpfung jederzeit zu überprüfen und notfalls anzupassen. Nur die Gaukler und Pharisäer der guten Laune respektive des Untergangs kennen die „Wahrheit“ (ihr erbärmlicher Versuch, zeitnahe Krisen-Dividende aus der aktuellen Notlage herauszuschlagen). In der aktuellen Situation geht es aber nicht ums eigene Geschäft, sondern um das Überleben vieler Menschen und die Rettung von Millionen von Arbeitsplätzen.

 

Der Epidemiologe Christian Drosten avanciert gerade zu Deutschlands wichtigstem Experten in der Coronakrise. Seine wissenschaftliche Überzeugungskraft speist sich daraus, dass er eben nicht vorgibt, alles zu wissen. Er betont auch immer wieder, dass Lernen und Infragestellen in der aktuellen Situation besonders wichtig seien.

Sechs Fragen, mit denen Sie die Gurus entzaubern

Wenn die Gurus mit der rosaroten Brille oder mit dem Sensenmann an Ihre Türe klopfen, stellen Sie ihnen die folgenden sechs Fragen (1-4 sind die gleichen Fragen, die man auch den Populisten und Klimaskeptikern stellen sollte. Der Klimaforscher Stephan Rahmstorf hat in einem sehr guten Artikel in dieser Woche auf die analogen Strategien zwischen Corona- und Klimaleugnung hingewiesen):

 

  • Fakten: Auf welcher Fakten-, Datenbasis fußen ihre Annahmen, das nach Corona alles dufte wird/die Welt untergeht? Wenn Ihre Entdeckungen so revolutionär sind, warum stellen Sie sie nicht Fachkollegen vor und setzen anschließend umgehend die Kanzlerin in Kenntnis?
  • Peer Reviews: Durch welche wissenschaftlichen Begutachtungen von Fachleuten in Netzwerken (Peer Reviews) sind ihre Prognosen erhärtet und in ihrer Stichhaltigkeit und Relevanz bestätigt worden?
  • Methoden: Welche besonders evidenten Modelle und Datenhintergründe lassen es eineindeutig erscheinen, dass nach Corona alles ganz toll wird (bzw. der Weltuntergang naht)?
  • Realitätsbezug: Gurus mit der rosaroten Brille ebenso wie die Apokalyptiker verfügen in der Regel über keine Detailkenntnisse. Verlangen Sie also, dass die ersten fünf Schritte auf dem Weg hin zum prophezeiten Endzustand erläutert werden, damit wir gleich damit anfangen können, in die neue Gute-Laune-Ära durchzustarten (an den Apokalyptiker: Benennen Sie bitte das genaue Datum, damit wir uns fristgerecht auf den Weltuntergang vorbereiten können!)!

Wenn Ihnen die Business-Propheten mit der rosaroten Brille stichhaltige Antworten geliefert haben (was ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann), starten Sie umgehend in die sonnendurchflutete Zukunft durch.

 

Jetzt ist alles leicht. Nur noch zwei Fragen zum Glück:

  • Fragen Sie, woher alle Menschen, die jetzt in Handel, Industrie, Dienstleistung, ihre neuen Jobs bekommen und ob vielleicht auch schon bekannt ist, wie die neuen Gewerke heißen.
  • Verweisen Sie die Gute-Laune-Propheten schließlich an die amtlichen Regierungsstellen, damit wir uns das lästige Kleinklein zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ein für allemal sparen können.

Noch einmal ernsthaft: Selbstgefälligkeit und Ignoranz hat zu Beginn der 2000er Jahre nachweislich dazu geführt, dass amerikanische Sicherheitsexperten die Gefahr für ein 9/11 schlicht nicht wahrhaben wollten – so erfolgstrunken war die westliche Welt damals vom Neuen Markt und dem globalen Aktienboom. Francis Fukuyama spricht von „expressivem Individualismus“  und erklärt damit einen Lebensstil, der sich seit den 1990er Jahren in der neoliberalen Ära eingeschlichen hat.

 

Der expressive Individualismus vertritt eine knallharte Ideologie: „Nur du selbst machst die für dich verpflichtenden Gesetze, nur dein narzisstisches Selbst ist die Maxime des Handelns. Aus dieser „renitenten Sorglosigkeit“ (Heinz Bude) der Gute-Laune-Gurus, die jetzt schon wissen, wie geil es nach Corona wird, resultieren Verantwortungslosigkeit und Wissenschaftsleugnung – Corona-Partys in den Innenstädten zum spring break.

 

Meine Hoffnung: Vielleicht lernen wir aus dem globalen Zusammenbruch der Corona-Krise, dass wir nicht als selbstoptimierte Ichlinge und Narzissten eine neue Welt schaffen können, sondern aus der Solidarität mit den Anderen, den Schwächeren.