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Konsum- und Handelstrends: eCommerce-Ernüchterung und promiskuitive Marken

Die „Retail Apokalypse“ ist vorerst ausgeblieben. Zumindest ereignete sie sich nicht so, wie es viele in der Mitte der 2010er Jahre erwartet hatten. Die Handelswelt ist nicht zum verlängerten Arm der amerikanischen Software-Industrie („Software-ization of Everything“) geworden. 

 

Der e-Commerce-Handel hat den stationären Handel keineswegs verdrängt. Ganz im Gegenteil. Das bahnbrechende Wachstum des Online-Shoppings ist gebremst. Weltweit bevorzugen die Menschen nach wie vor den stationären Handel - der indes durch den Megatrend Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in den kommenden Jahren sein Gesicht und seine Wertschöpfungsmuster radikal verändern wird.

 

Was also wird im Konsum für die 2020er Jahre wichtig? Wie befruchten sich digitaler und stationärer Handel? Was interessiert den Kunden wirklich, was sind die neuen Kicks, nach denen sich die Kunden der Zukunft sehnen?

From Clicks-to-bricks: Der Überall-Kunde regelt

Selbst der allmächtige digitale Pure Player Amazon signalisiert längst, dass es mit puren Online-Kauferlebnissen nicht so weit her ist. Mit der Übernahme des US-Biohändlers Whole Foods Market im Jahr 2017 und der stationären Automatisierungsvariante „Amazon Go“ steht fest, dass die Digitalisierung den stationären Handel nicht ablöst, sondern neu erfindet. Freilich werden in den kommenden Jahren nicht alle Läden automatisiert, aber die disruptive Idee des kassenlosen Einkaufens könnte im Einzelhandel die kommenden Jahre dominieren. Momentan ist Amazon dabei, kassenlose Supermärkte auch für Ladengrößen bis zu 3.000 Quadratmeter zu entwickeln. Bis vor kurzem ließen sich die kassenlosen Läden nur für 200-Quadratmeter-Miniformate einrichten. Amazon Go hat für die Entwicklung seines kassenlosen Systems laut Bloomberg seit dem Jahr 2012 nicht weniger als eine Milliarde US-Dollar in die Hand genommen.

 

Ein auf breiter Front wahrnehmbarer Trend besteht seit einiger Zeit zweifellos darin, dass sich die Digital Natives des Einzelhandels mit stationären Geschäften wichtige Zukunftsbausteine hinzukaufen. Online-Optiker Warby Parker beispielsweise startete als Pure Player, verfügt aber mittlerweile über mehr als 100 stationäre Geschäfte und möchte weiter ausbauen. In Deutschland geht Mister Spex den gleichen Weg und macht die Ausbreitung in der stationären Welt (mittlerweile mehr als 40 Ladengeschäfte) primär für die Umsatzzuwächse verantwortlich. Aber es sind auch erfolgreiche US-Nischen-Retailer wie Boll and Branch oder Saatva (Bettzeug und Matrazen) und natürlich arrivierte Händler wie Urban Outfitters und Nordstrom, die mit Hochdruck daran arbeiten, ihre digital bestens gerüsteten Kunden passgenau zu bedienen. Das verlangt jedoch nichts anderes als eine kleine Revolution in Vertrieb und Logistik. WalMart, die Mutter aller Einzelhändler, darf dabei natürlich nicht fehlen und kommt schon heute auf 2.700 Pickup-Stores US-weit, in denen die Kunden ihre digitale georderte Ware bequem abholen. 

Stationärer Handel nach wie vor Nummer eins

Ab sofort gelten Handels- und Marketingansätze als zukunftsblind, die noch an das Märchen vom durchstartenden e-Commerce glauben. Die digitalen Umsätze werden auch in den kommenden Jahren weltweit weiter zunehmen. Aber von einem Boom kann längst nicht mehr die Rede sein. Gerade in Europa fallen die Zuwachsraten für das pure digitale Geschäft schon seit einiger Zeit bescheidener aus. Laut einer Erhebung von Adyen (s. Graphik) ist weltweit nach wie vor der stationäre Einkauf die bevorzugte Shopping-Option. Indessen gehen viele Kunden auf gut ausgearbeitete Online-Offline-Konzepte, wie beispielsweise die Pickup-Innovation (online bestellen und selbst abholen) ein. Ein Trendpionier wie Target ist der Abholservice im vergangenen Jahr um 500 Prozent gewachsen. Der Laden als Lager für Ungeduldige. Target bestätigt darüber hinaus, dass die Ansprache des auto-mobilen Kunden nachhaltiger ist und dem Unternehmen Kosten (Versand, Reduzierung der Rücksendungen) spart.

Quelle: Adyen Global Retail Report 2019
Quelle: Adyen Global Retail Report 2019

Personalisierung und Datenklau

Auch bei Retail-Trend Nummer zwei sollten wir genauer hinschauen. Zweifellos ist es sinnvoll, die Aufmerksamkeit auf die Personalisierung des Einkaufserlebnisses zu richten. Die kreative Bearbeitung der Online-Offline-Schnittstelle wird da in den kommenden Jahren eine Menge neuer Wege öffnen, die auch die drängenden Themen Nachhaltigkeit und Zeitersparnis adressieren. Der erbitterte Kampf darum, wer wie mit den Kundendaten – unverzichtbare Voraussetzung für weiterführende Personalisierungsansätze – umgeht, wird die kommenden Jahre allerdings ebenso prägen. Regulierungsansätze befinden sich speziell in den USA noch in einem frühen Entwicklungsstadium. Doch seit dem Jahr 2018 wurde bei nicht weniger als 19 Handelsunternehmen ein Datenklau festgestellt. Weswegen wir von einem Kampf sprechen? Ganz einfach. Werden die Datenbestimmungen vom jetzigen Status ausgehend straffer formuliert, werden Händler viele Personalisierungsangebote überarbeiten oder zurücknehmen müssen. Und die großen Datenkraken wie Google werden mit Umsatzeinbrüchen zu rechnen haben, da sie ihre – fragwürdigen – Targeting-Algorithmen zügeln müssen, was deutlich weniger Geld in die Kassen des Suchmaschinengiganten spülen wird.

Markenmaschinen brauchen Persönlichkeit

Nichts ist langweiliger als mehr vom Immergleichen. Einheitlichkeit ist öde, das ist der grundsätzliche Webfehler bei vielen großen Marken. Im vergangenen Jahr sind einige erstaunliche Markenkooperationen gegen Konformität und Erwartbarkeit entstanden. Vor allem an der Schnittstelle zwischen Luxusbrands und Sport: Reebok und Victoria Beckham, Puma und Balmain, Prada und Adidas. In dem Maße, wie Sportler immer mehr zum Teil der Star- und Unterhaltungsindustrie werden, steigt offenbar auch das Bedürfnis, beide Welten für die Konsumenten zusammen zu bringen. Es gibt aber auch noch andere Gründe für Kooperationen: Im Dienste der guten Sache fanden sich zum Beispiel Stella McCartney und Taylor Swift zusammen. Sie warfen ihre eingeführten Images für eine nachhaltige Modekollektion zusammen, die gleichzeitig bei der Promotion von Taylor Swifts neuem Album „Lover“ zum Einsatz kam. Es ist zu vermuten, dass solche Synergie-Projekte bald auch in Branchen außerhalb von Fashion entstehen werden.