Mega-Trend verändert Familien – so stärken wir sie

Die Familie ist nach wie vor die Keimzelle unserer Gesellschaft. Geht es den Familien gut, profitieren unmittelbar Modernisierung und Wohlstand davon. Familie 2.0 kann uns sogar gegen Ungleichheit immunisieren. Vier Voraussetzungen braucht es dafür.

 

Erstens müssen wir mit dem ideologischen Ballast aufräumen, der speziell in Deutschland immer noch dem Begriff Familie anlastet. Uns ist beispielsweise aufgefallen, dass gerne die Renaissance von Familie und Bürgerlichkeit verkündet wird. Damit einhergehend wird die Besinnung auf Konventionen und Rituale gefeiert (Wir nehmen kaum noch gemeinsame Mahlzeiten ein, „Entstrukturierung des Tagesablaufs“).

 

Auf subtile Weise werden damit jedoch überkommene Rollenbilder am Leben erhalten. Berufstätige Frauen geraten in moralische Konflikte, wenn sie nicht regelmäßig biologisch wertvoll kochen, beziehungsweise für Familie und den beschäftigten Gatten vorkochen. Hier sollten wir uns einfach einmal locker machen: Familie ist nach wie vor ein Sehnsuchtsort, intakte Familien sind sozialpolitisch in hohem Maße sinnvoll und nützlich. Aber wenn wir so etwas wie Familie 2.0 erreichen wollen, müssen wir zuallererst Typisierungen aufheben: die aufopferungsvolle Mutter, der abwesend-arbeitende Vater.

 

Zweitens, wir müssen grundlegend anders über Familie nachdenken: Ich bin fest davon überzeugt, dass intakte zwischenmenschliche Ökosysteme, wie die moderne Familie eines darstellt, eine nachhaltige Immuntherapie gegen soziale Ungleichheit und das Gefühl des Abgehängtwerdens garantieren. Familie ist im Zeitalter der Individualisierung keine Schicksals- oder Zwangsgemeinschaft mehr - Familie ist auch dort, wo man ungefragt an den Kühlschrank gehen kann. Familie 2.0 definiert sich nicht mehr nur über Herkünfte, sondern über Neigung, Zuneigung, aber auch über strategische Opportunität

Neue Beziehungsqualität der Familie 2.0

Ich möchte diese neue Beziehungsqualität, die Familie 2.0 ermöglicht, kurz an einem Beispiel veranschaulichen:

Familie gewinnt gerade immer mehr Bedeutung für junge Erwachsene. Sie sind gegenwärtig Teil der so genannten Generation Z, die 1995 und später geboren wurde. Ich halte nicht viel von dem Begriff Generation Z, zu unterschiedlich sind ihre Lebensstilorientierungen in unterschiedlichen Regionen der Welt, zu unterschiedlich vor allem ihre ökonomischen Ausgangsbedingungen.

 

Wichtiger ist mir, dass wir hier von einem Lebensabschnitt reden (grob gesagt: die jungen Erwachsenen zwischen 18 und 30 Jahren), der sich in den vergangenen zehn Jahren rasant verändert hat. Zugespitzt könnte man sagen: Die Menschen zwischen 18 und 30 Jahren versuchen insbesondere in den westlichen Wohlstandsgesellschaften vor allem eines: das Erwachsensein so lange wie möglich aufzuschieben.

 

Knapp ein Drittel (32,1 Prozent) der jungen Erwachsenen in den USA lebte 2014 in ihrer Herkunftsfamilie. Etwas weniger (31,6 Prozent) hatte mit einem Partner einen eigenen Haushalt gegründet. Erstmals war damit das eigenverantwortliche Zusammenleben mit einem Partner nicht mehr das Mainstream-Lebensarrangement für junge Erwachsene. Noch 1960 lebten zwei Drittel der jungen Amerikaner mit dem (Ehe-)Partner im eigenen Haushalt und nur einen Minderheit von einem Fünftel bei den Eltern.

 

Ob das nun gut oder verwerflich ist, müssen wir nicht entscheiden. Wichtig ist, dass dieses neuartige Lebensphasenphänomen („Stages, not ages“, nennen es US-Soziologen) existiert und neue Bedürfnisse und Lebensknappheiten schafft, auf die Wirtschaft und Gesellschaft frühzeitig reagieren sollten.

Phänomen der "Boomerang Kids"

In den USA ist das Phänomen am besten erforscht. Allein, die Ursachen für die Familienrückkehr ließen sich schwer analysieren. Verantwortlich dafür ist die Tatsache, dass das Phänomen schon länger existiert. Schaut man sich Zeitreihen von Generationsentwicklung weltweit an, stellt man fest, dass der Hang zum Aufschieben des Erwachsenseins in Nordeuropa bereits Ende der 1980er Jahre in Ansätzen zu beobachten ist.

 

Und neuerdings ist diese Tendenz auch in Ländern wie Brasilien, Russlandoder Chinaauffällig. Das heißt, überall dort, wo in den vergangenen 30 Jahren moderne Lebensverhältnisse Einzug gehalten haben, ist das Phänomen der „Boomerang Kids“ zu erkennen.

 

Generell wird das Phänomen mit der wirtschaftlichen Depression Ende der 2000er Jahre erklärt, mit unbezahlbaren Innenstadtmieten und durchs Studium verschuldeten Berufseinsteigern. Diese Indikatoren sind für veränderte Lebensstilentscheidungen zweifellos wichtig. Sie erklären aber nicht erschöpfend, weswegen wir das Rückkehrer-Phänomen bereits seit den 1980er Jahren kennen. Entscheidend dafür ist der Megatrend des Demografischen Wandels.

 

Demografischer Wandel als Megatrend besagt, dass alle Gesellschaften weltweit altern, viele Menschen sich dabei jedoch – vorausgesetzt sie bleiben gesund – bis zu 15 Jahre jünger fühlen als es ihr biologisches Alter tatsächlich ausdrückt („Downaging“). Höhere Lebenserwartung – die zentrale Auswirkung des demografischen Wandels – ist also in erster Linie dafür verantwortlich zu machen, dass sich viele Lebensphasen in den vergangenen Jahren deutlich verändert haben.

 

Und dadurch haben sich auch die Wünsche und Anforderungen verändert, die gegenüber der Familie im 21. Jahrhundert artikuliert werden. Für die Boomerang Kids bedeutet das konkret: Herkunftsfamilie ist - für die neuen Bedürfnisse der Heranwachsenden – häufig einfach ein strategic hub, eine zeitlich befristete, konjunkturabhängige Mesalliance mit der Herkunftsfamilie. Familie 2.0 ist dort, wo man immer wieder einmal vor Anker gehen kann, wenn es im Job oder in der Beziehung nicht läuft.

 

Was können wir tun, um die Familie 2.0 zu stärken? Vier Maßnahmenscheinen mir dabei besonders wichtig:

1. Neofamiliäre Ökosysteme wie die Latte-Macchiato-Familie früher erkennen und konsequent fördern

 

In unserer Lebensstil-Matrix erkennen wir beispielsweise, dass Latte-Macchiato-Familien seit einigen Jahren schon nach alternativen Mobilitätsangeboten in urbanen Räumen Ausschau halten und sich von PKW-Mobilität verabschieden möchten.

 

Sie sind darüber hinaus aufgeschlossen für alternative Formen des Konsums (von der solidarischen Landwirtschaft über Sharing-Angebote bis zu Vertical-Farming- und Urban-Farming-Projekten. Für sie ist Familie ein zentraler Wert in ihrem Leben – der allerdings jederzeit kritisch hinterfragt werden kann. Sie bekennen sich zu Elternschaft und verantwortungsvollem Handeln, möchten aber trotzdem solange wie möglich ihren studentischen Lebensstil aufrechterhalten.

 

Solche und viele weitere Lebensstiländerungen müssen von Politik und Wirtschaft zukünftig besser verstanden werden, damit Lebensphasen-Engpässe (von der klimaverträglichen Alltagsmobilität bis zum Kind-Karriere-Dilemma) schneller überwunden werden können. 

2. Großfamilie reloaded: Den demografischen Wandel der vergangenen zehn Jahre besser verstehen und nutzen

 

Ja, wir beobachten so etwas wie moderne Großfamilien oder Großfamilien 2.0. Sie haben mit der patriarchalisch organisierten Großfamilie des wilhelminischen Zeitalters nichts mehr zu tun. In ihnen entsteht gerade eine neue Beziehungsökonomie (griechischOikos für Hausgemeinschaft). Als Gesellschaft müssen wir auf diese Trends früher reagieren.

 

Die Großfamilie reloaded ist im Grunde nichts nichts anderes als ein Mehrgenerationenmodell und tritt durch den Megatrend Demografischer Wandel immer stärker in den Vordergrund. Das Reizvolle an dem Modell: es eröffnet jede Menge Flexibilisierungsoptionen für die individuelle Gestaltung von Lebensphasen und Lebensentwürfen.

 

Schon seit einiger Zeit beobachten wir eine Rückbesinnung auf die Herkunftsfamilie. Mehr noch, Familie ist zum offenen Gestaltungsprojekt für Familienmitglieder zwischen neun Monaten und 90 Jahren geworden. Mittlerweile suchen unterschiedliche Akteure im familiären Netzwerk – ihrer jeweiligen Lebensphase entsprechend – Antworten auf die sich individualisierenden Bedürfnisse. (Individualisierung ist ebenfalls ein Megatrend und heißt nicht nur, dass wir möglichst viele personalisierte Produkte konsumieren wollen. Individualisierung bedeutet, dass wir in einer modernen Gesellschaft unabhängig von Herkunft, Alter und Geschlecht unseren Bedürfnissen nachgehen möchten.)  

3. Ungleichheit durch Integration bekämpfen, dafür braucht es bessere Bildungsangebote: Wir müssen das Thema Ungleichheit adressieren!

 

Ein Land wie Estland schneidet bei der PISA-Studie deswegen so gut ab, weil der Bildungserfolg in dem kleinen Land eben nicht von der Herkunft abhängt. Integration (hier haben wir in den vergangenen Jahren schon einiges erreicht) findet in Kindergärten, Schulen und Vereinen statt. Auf diese Weise müssen wir wieder soziale Aufwärtsmobilitäterzeugen.

 

Jedes Kind, das ausgebildet wird, muss wieder das Gefühl haben, dass es ihm mindestens so gut geht wie den Eltern. Seit den 1990er Jahren ist soziale Aufwärtsmobilität in ausnahmslos allen westlichen Industriestaaten NICHT mehr gewährleistet (wobei Deutschland hier noch relativ gut abschneidet). Ausbleibende soziale Aufwärtsmobilität hat hauptsächlich zu Ungleichheit und dem Erstarken des Populismus beigetragen. Ganz klar also: Bildung stärkt Familien – gerade sozialschwache Familien brauchen die Unterstützung aus der Gesellschaft.

 

Wie ist der Status Quo? In Deutschland hat sich die Zahl junger Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Abitur in den vergangenen Jahrzehnten leider kaum verringert. Ihr Anteil liegt bei den 25- bis 34-Jährigen bei 13 Prozent. Unter 55- bis 64-Jährigen sind es fast genauso viele.

 

Schauen wir dagegen in ein vergleichsweise armes Land wie Estland, lernen wir, wie man Kinder und Familie fit für die Zukunft macht. Die Instrumente dafür sind sehr einfach: Kostenlose Nachmittagsbetreuung, kostenlose Lernmaterialien, kostenloser Schulbus, kostenloses Mittagessen. Estland ist zwar eines der ärmsten OECD-Länder, hat aber sehr genau begriffen, dass es mehr Ungleichheit nicht zulassen darf. Bis in die neunte Klasse wird dort gemeinsam unterrichtet, erst dann fällt die Entscheidung, wer in die Sekundarstufe zwei geht und wer nicht. Reichen die Noten dafür nicht aus, kann trotzdem am Gymnasium weitergelernt werden.

4. Familie und die Zukunft von Arbeit und Automatisierung

 

Wie sieht die Zukunft der Familie angesichts von Digitalisierung und Automatisierung aus? Bis ins Jahr 2035 hinein werden wir aller Voraussicht nach trotz fortschreitender Automatisierung weiterhin von Vollbeschäftigung ausgehen können. Dessen ungeachtet müssen wir jetzt schon Grundlagen für die Jahre 2040 und später legen, in denen weitere Entwicklungsschübe insbesondere in der Künstlichen Intelligenz die Arbeitswelt signifikant verändern werden.

 

Bis dahin brauchen wir Antworten auf zweierlei: Automatisierungssprünge und den Pflegenotstand. Die Besteuerung von Automatisierungsgewinnen könnte dann ein Hebel sein, der dazu genutzt wird, häusliche Betreuungs- und Erziehungsarbeit in der Familie endlich angemessen und der vitalen Bedeutung für unsere Gesellschaft gemäß zu entlohnen.  


Dieser Artikel von Eike Wenzel ist am 6. Januar 2020 in der Reihe "Auf gehts Deutschland!" auf Focus online erschienen.