Warum der Fortschrittsfeind aus der Provinz ein Mythos ist

„Unsanierte Pendler“ und Verweigerer von Modernisierung – das Urteil von Politikern über Landbewohner ist harsch. Dabei ignorieren sie einen Trend.

Jetzt werden sie auch noch für den Klimawandel verantwortlich gemacht. Angesichts der CO2-Steuerdebatte taucht ein Problem-Bürger vor dem inneren Auge unserer populismusgeplagten Realpolitiker auf: Es ist der auf dem Land wohnende Pendler, der täglich in die deutschen Ballungsräume mit seinem Verbrennungsmotor strömt, um bescheidenes Geld mit prekären Jobs zu verdienen.

In Expertenkreisen wird diese Spezies auch als „einkommensschwacher Autopendler mit unsaniertem Haus“ bezeichnet. Als solchermaßen prekarisierter Landbewohner und Vorstädter steht er im Ruf, sich gegenüber jeder Modernisierungshürde – etwa der Energiewende, der Mobilitätswende, dem regionalen Konsum – zu verweigern.

 

Scheitern am Ende gar das zarte Pflänzlein der CO2-Steuer und die Einhegung des Klimawandels an diesen erneuerungsfeindlichen Provinzlern? Das haben zumindest besorgte Unionspolitiker gemutmaßt. Wobei es ihnen bei ihrem Protest gegen eine CO2-Steuer wohl eher um die eigene wohlhabende Wählerklientel geht, die oft fliegt und mit PS-starken SUVs unsere Straßen zupflastert.

Immerhin geben ja die französischen Gelbwesten, so die Angst nicht nur von Seiten der Unionspolitiker, das beste Beispiel dafür ab, wohin die Ökobesteuerung von Benzin führt: zum offenen Aufruhr.  

Offensichtlich ranken sich um das Konzept des ländlich-strukturverzagten Wutbürgers beharrliche soziodemografische Mythen, die wir uns einmal genauer anschauen sollten.Unstrittig ist: Eine dramatische Landflucht gerade aus ländlichen Regionen in Ostdeutschland in den Westen hat in den vergangenen 20 Jahren nachweisbar stattgefunden. 

 

Es geht aber an der Realität des Jahres 2019 vorbei, diesen Strukturwandel ausschließlich als Prozess des Ausblutens zurückgelassener Landstriche zu beschreiben. 

Drei Beobachtungen sind hier wichtig:

  • Unstrittig ist: Innerhalb von zwei Jahrzehnten ist die Bevölkerung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR um elf Prozent geschrumpft. Doch es ist nicht so, dass die Landflucht in Deutschland immer dramatischere Ausmaße annimmt. Schaut man auf aktuelle Zahlen, kann der Osten seit 2017 sogar Wanderungsgewinne verzeichnen. Das heißt, es wandern mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt. Allerdings überwiegt für ländliche Gebiete in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern nach wie vor der Abwanderungstrend.
  • Innovationshemmend ist, dass wir die „Landbevölkerung“ offensichtlich immer noch mit den gleichen Augen anblicken, wie die Soziologie Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei ist das unzeitgemäß. Denn wir beobachten seit einigen Jahren, dass der Stadt-Land-Gegensatz für die Bewertung zukünftiger Lebensstilbedürfnisse weitestgehend unbrauchbar geworden ist. Megatrends wie Neourbanisierung, Digitalisierung und Energiewende transformieren Städte und den ländlichen Raum gleichermaßen.
  • Hinzukommt: Auch für junge Menschen und gutverdienende Familiengründer ist das hippe Leben in den Metropolen nicht mehr die einzige Lebensstiloption. Das hat zum einen mit den hohen Mieten zu tun. Zum anderen erinnern sich die jungen Menschen an ihre eigene Kindheit in Vorstädten und auf dem Land und setzen darauf, dass Digitalisierung (Breitband), Mobilitätswende (Ausbau des ÖPNV, Robotaxis etc.) und flexibilisierte Arbeitswelten (mobiles Arbeiten) in einigen Jahren ein entspanntes Familienleben auf dem Lande gestatten.

Demografische Trendwende auch in Nordamerika

Dass das Landleben wieder an Attraktivität gewinnt, ist übrigens seit einigen Jahren auch in Nordamerika zu beobachten. Dort wächst die suburbane und kleinstädtische Bevölkerung in 35 von 53 Metropolregionen stärker als in den Zentren. In New York City und Houston ist der Bevölkerungszuwachs seit 2016 zum Stillstand gekommen. In einer Stadt wie Chicago sind bereits seit 2014 die Einwohnerzahlen rückläufig.

Digitalisierung, flexiblere Arbeitsmodelle und die Aussicht auf Entschleunigung und moderatere Preise machen den ländlichen Raum auch in Deutschland wieder zu einer ernsthaften Lebensstiloption. Das ist eine enorme Chance für viele Regionen, die bislang vom Wegzug geplagt waren.  

Beispiele, dass Landleben gelingen kann, gibt es zuhauf. Im sachsen-anhaltinischen Derenburg tummeln sich heute mehr Kinder in der Kita als vor der Wende. Derenburg ist nicht der Landflucht zum Opfer gefallen, vor allem weil viele Familien in der Region geblieben sind, was natürlich in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass es in der Nähe nach wie vor große Industriebetriebe gibt.

Überdies geht es dem nahegelegenen Urlaubsort Wernigerode leidlich gut, in der ortsansässigen Hochschule sind mehr als 3.000 Studenten eingeschrieben und die Kleinstadt konnte sogar ihr philharmonisches Orchester erhalten, eine absolute Rarität in der deutschen Provinz.

Die kleine mittelfränkische Gemeinde Gerhardshofen hat durch Unternehmensansiedlung und attraktive Bedingungen für Familien bereits in den 1970er-Jahren die Flucht aus der Provinz abgewendet. Heute leben dort mehr Menschen als in den 1960er-Jahren. 

 

Thomas Schmidt, Sächsischer Staatsminister für Umwelt und Landwirtschaft, prescht voran und sieht für den Freistaat die Landflucht bereits komplett gestoppt.

Vorschnelle Landflucht-Prognosen führen zu realen Problemen

Damit abgehängte oder gefühlt abgehängte Regionen erblühen können, müssen sich vor allem aber auch die Planer in den Behörden von ihrer Liebe zum Landflucht-Mythos verabschieden. In einer Kleinstadt wie dem sachsen-anhaltinischen Genthin führt die Liebe zum Entvölkerungs-Mythos gerade zu handfesten Versorgungsknappheit. 

 

2004 wurde dort die Schließung des Genthiner Krankenhauses beschlossen. Damals war die Region auch tatsächlich von massivem Bevölkerungsschwund betroffen, 2009 schloss außerdem ein großes Waschmittelwerk seine Tore.

 

Der Mythos Landflucht tat seine Arbeit. Apokalyptische Abwanderungsprognosen von Demografie-Experten schossen ins Kraut. Am Ende wurde das Genthiner Krankenhaus abgewickelt, obwohl sich zwischenzeitlich die Bevölkerungssituation in der Region deutlich zum Besseren gewendet hatte.

 

Nicht weniger als zehn Unternehmen siedelten sich in den 2000er-Jahren in der Region an, die für mehr als 500 neue Arbeitsplätze sorgten. Die negativen Prognosen der Demografen stellten sich als viel zu grobkörnig heraus, Genthin erlebt seit einigen Jahren keine Landflucht mehr, sondern eine (auch durch Zuzug von Flüchtlingen bedingte) bescheidene Revitalisierung – jetzt jedoch ohne Krankenhaus. 

 

Noch einmal: Nicht die allseits gefürchtete und beschworene Landflucht führte zu dem Planungschaos, sondern die Tatsache, dass die prognostizierte Landflucht nicht stattfand und genau das Gegenteil eintrat.    

Mit einfachen Mitteln Landflucht bekämpfen

Die folgenden Trends sind das Ergebnis von Erfahrungen aus ländlichen und (klein-)städtischen Revitalisierungsprozessen in Europa und Nordamerika. Ihre Einfachheit spricht dafür, dass wir uns sofort an die Umsetzungsarbeit machen können: 

  • Familien als Immuntherapie gegen Strukturabbau: Leben außerhalb der Metropolen braucht in den nächsten Jahren mindestens ebenso dringend wie 5G-Netze und Digitalisierung den Zuzug von Familien und eine Begrüßungskultur für junge Familien und ausländische Arbeitnehmer. Die Ansiedlung von Familien ist der sicherste Anker, um die Zukunft von Kommunen, Städten und Regionen zu garantieren.
  • Industriepolitik als Bildungspolitik: Forschung, Innovation, Start-ups: In der Wissensgesellschaft werden Bildungsinstitutionen als Infrastruktur-Anker immer wichtiger. Sie schaffen hochwertige Jobs und kurbeln den Zuzug hochwertiger Mitarbeiter an. Was wir in Zukunft viel stärker beachten müssen: Staatliche Ausbildung und Forschung legt wirkungsvoller als wir bislang angenommen haben, die Basis für Start-ups und Unternehmensgründungen.
  • Kampf um jeden Infrastruktur-Anker: Der ländliche Raum ist wieder eine Zuzugsoption. Damit die „Raumpioniere“ tatsächlich auch kommen, braucht es Kita, Krankenhaus, Bäcker und Metzger. Ohne diese Infrastruktur-Anker geht im Dorf der Zukunft nichts.
  • Begegnungsorte sind wichtig: Orte, an denen sich Menschen begegnen können, helfen beim Neuaufbau oder der Stützung von kommunaler Identität. Auch hier sind erste Maßnahmen denkbar einfach: Leistungsträger vor Ort müssen gestärkt und in ihrem Tun sichtbarer werden. Und außerdem hilft es ungemein, wenn im Stadtkern auch nach 22 Uhr noch Licht brennt, nicht nur in Geschäften, sondern auch in Wohnungen. 

Damit sind einige Zukunftsvektoren beschrieben, die dazu beitragen, dass Landleben sich den Modernisierungsanforderungen der nächsten Zeit öffnet und für zeitgemäße Lebensstile attraktiv wird. Dann können wir uns auch von monströsen Begriffsungetümen wie den „unsanierten Pendlern“ verabschieden.

Dr. Eike Wenzel gilt als einer der renommiertesten deutschen Trend- und Zukunftsforscher. Er ist Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung (ITZ) und Leiter des Studiengangs „Trend- und Nachhaltigkeitsmanagement“

Dieser Artikel ist am 8. Mai 2019 als Kolumne von Eike Wenzel im Handelsblatt erschienen.