Wie die Bahn zum Mobilmacher der Zukunft wird

Wir brauchen dringend Alternativen zu Auto und Flugzeug. Schnelle und günstige Züge wären eine. Doch erst müssen wir mit einigen Vorurteilen aufräumen.

 

Die Fridays-for-Future-Generation führt uns Woche für Woche nicht nur die Dringlichkeit des Kampfs gegen den Klimawandel vor Augen. Ihr Protest zeigt auch: Wer sich ernsthaft um das Morgen sorgt, der blickt auch anders auf die Vergangenheit. Dadurch wird vielen gerade bewusst, dass beispielsweise Automobilität auf Basis von Verbrennungsmotoren auch erst seit rund hundert Jahren in Gebrauch ist – ein technologisches Phänomen des frühen 20. Jahrhunderts mit vielen Annehmlichkeiten und noch mehr Unzulänglichkeiten. 

 

Auch der Flugverkehr, wie wir ihn kennen, ist ein technologisches Kind des industriellen 20. Jahrhunderts und folglich ohne Berücksichtigung seiner Klimafolgen entwickelt worden. Ob Auto oder Flieger – die CO2-Bilanz ist verheerend. Während in Deutschland beim Zugfahren pro Personenkilometer laut Angaben der Bahn 36 Gramm CO2 ausgestoßen werden, sind es beim Autofahren laut Bundesumweltamt 139 Gramm und beim Fliegen gar 201 Gramm.

 

Also weswegen sollten wir uns für Problemlagen im 21. Jahrhundert mit – offensichtlich defizitären – Technologien des 20. Jahrhunderts beschäftigen? Gerade in Zeiten des Umbruchs gilt: Nichts ist für ewig, jedes Zeitalter produziert seine eigenen Irrtümer und Kurzsichtigkeiten. Also schnellstens weg mit den veralteten Technologien!

Viele Highspeed-Züge sind schon konkurrenzfähig

Die Bahn scheint zeitgemäßere Lösungen zu liefern. Doch gerade im europäischen Streckennetz der superschnellen Züge bleibt einstweilen viel Platz für Optimierungen. Seit dem Jahr 2000 wurden EU-weit insgesamt 23,7 Milliarden Euro in das Streckennetz für Hochgeschwindigkeitszüge investiert. Bislang ist dabei nur ein kümmerlicher Flickenteppich herausgekommen, wie die EU-Rechnungsprüfer im vergangenen Jahr monierten. Ein flottes paneuropäisches Bahnnetz scheiterte bislang vor allem an nationalen Egoismen.

Doch um der Luftfahrt ernsthaft Konkurrenz machen zu können, das belegen unzählige Studien, müssen vor allem die Reisezeiten auf den Gleisen denen des Flugverkehrs (Wartezeiten und Flughafentransfer eingerechnet) nahekommen. In China und Japan ist das bereits auf vielen Strecken Realität. Auch auf einigen wichtigen europäischen Verbindungen wie Paris-Brüssel, Brüssel-London, Rom-Mailand oder München-Wien ist der Zug inzwischen fast so schnell wie das Flugzeug. 

 

Dass es manchmal nur eines kleinen Anstoßes bedarf, zeigen die Schweden. Dort hat der ehemalige Biathlet Björn Ferry, der nun als TV-Experte für das schwedische Fernsehen arbeitet und dafür quer durch Europa reisen muss, mit seinem Verzicht auf Flugreisen einen wahren Bahnboom ausgelöst. Auf manchen Strecken sind die Buchungen im vergangenen Jahr um mehr als 100 Prozent gestiegen, was die staatliche Bahngesellschaft dazu veranlasste, deutlich mehr Geld in ihre Waggons zu investieren und Verbindungen und Zielorte auszubauen. 

 

Auch Interrail-Tickets sind in Schweden seit 2017 so beliebt wie schon lange nicht mehr – 2018 wurden rund 50 Prozent mehr Tickets als im Vorjahr verkauft. Die Buchungen für Flugreisen sanken dagegen um drei Prozent.

 

Dabei gehören die Skandinavier zu den absoluten Vielfliegern weltweit. Sie fliegen siebenmal mehr als durchschnittliche Europäer. 61 Prozent des CO2-Ausstoßes werden durch Flugreisen verursacht. Doch das Fliegen wird in der Gesellschaft mehr und mehr verpönt, dafür hat sich sogar ein eigenes Wort entwickelt, die „Flugscham“ („Flygskam“).

Japan ist längst in der mobilen Zukunft angekommen

In Japan spielen Inlandsflüge fast keine Rolle mehr. Die Bahnhöfe, nicht nur in Tokio, sind hochattraktive Versorgungsknotenpunkte. Wer mit dem Zug morgens zur Arbeit fährt und abends zurückkehrt, der kann selbstverständlich davon ausgehen, dass Ärzte, Apotheken, Kaufhäuser und Restaurants rund um den Zugverkehr organisiert sind.

Japans größter Bahnbetreiber JR East denkt nicht in Minuten, sondern erfasst Abweichungen im Fahrplan in Sekunden. Das Ergebnis: Durchschnittlich liegt die Verspätung im Fernverkehr bei einer halben Minute.

Gleichzeitig fahren nirgendwo auf der Welt mehr Menschen mit der Bahn als in Japan. So werden 30 Prozent des Individualverkehrs über die Schiene abgewickelt. Zum Vergleich: Die in Europa als vorbildlich geltende Schweiz kommt auf einen Wert von 18 Prozent.

ICEs als ländliche Konjunkturprogramme

In Deutschland wird häufig über die Bahn geschimpft, tatsächlich ist die Performance, gerade im Vergleich zu anderen Ländern, katastrophal. Doch es gibt auch gute Nachrichten: Zwei Forscher der Universität Regensburg und Boston konnten in einer Studie zeigen, dass der (wenn auch zurückhaltende) ICE-Ausbau für kleine Konjunkturaufschwünge in ländlichen Gebieten gesorgt hat.

Sie haben die zweite Welle neuer ICE-Strecken in Deutschland untersucht, bei der 34 meist kleinere Städte an das Netz angeschlossen wurden. Der Ausbau hat dazu geführt, dass 91.500 Personen zusätzlich per Zug pendeln, und das mehrheitlich von den größeren in die kleineren Städte. So konnten Fachkräfte aus den Ballungszentren für Jobs in ländlichen Regionen begeistert werden.

 

Zwei Vorurteile der Autogesellschaft gegenüber der Schiene lassen sich damit widerlegen: Erstens gibt es tatsächlich auch für den ländlichen Raum Alternativen zum Pkw. Und zweitens lassen sich auch mittlere Distanzen zwischen 150 und 400 Kilometern mithilfe eines funktionierenden Bahnnetzes so bewältigen, dass Bürger vom Auto auf den Zug umsteigen. 

Deregulierung nach italienischer Art

Und noch ein weiteres Vorurteil gegenüber Hochgeschwindigkeitszügen lässt sich schnell widerlegen: Die Deregulierung des Schienenverkehrs ergibt sehr wohl Sinn – wenn dadurch Monopole zerschlagen werden können, die Preise und Qualität zementieren.

 

Werfen wir dafür einen Blick nach Italien. Dort wurde 2017 das private Schnellzugunternehmen Italo für 2,5 Milliarden an den amerikanischen Fonds Global Infrastructure Partners verkauft. Bis dahin gehörte das erfolgreiche Start-up der Ferrari-Rennsportlegende Luca di Montezemolo. Der Italo machte innerhalb kürzester Zeit den staatlichen Hochgeschwindigkeitszügen Konkurrenz. Vor dem Verkauf stieg der Unternehmenswert innerhalb eines Jahres um das Vierfache.

 

In Italien hat die private Konkurrenz bewiesen, dass Hochgeschwindigkeitszüge rentabel unterwegs sein können. Der Italo hat vor seinem Verkauf an die Amerikaner jedenfalls in kürzester Zeit dazu beigetragen, dass die Nachfrage nach schienengeleiteten Alternativen zum Flugzeug konstant stieg, während die Fahrpreise um 40 Prozent gesenkt werden konnten.

 

Auch in Österreich und der Tschechischen Republik ist die Deregulierung der Schiene längst Normalität. Auf der Strecke von Prag nach Ostrau ist der Fahrpreis seit der Öffnung für nichtstaatliche Anbieter um sage und schreibe 61 Prozent gesunken. In Europa wird das Bahnfahren dort deutlich intensiver genutzt, wo Deregulierungsmaßnahmen bereits gegriffen haben, das hat die Beratungsfirma AECOM für den Zeitraum zwischen 1996 und 2016 errechnet.  

Lufthansa auch an Land?

Herausforderungen für den Zugverkehr der Zukunft gibt es genug. Der Gütertransport profitiert nach wie vor noch gar nicht von den Hochgeschwindigkeitsnetzen. Dass es in den kommenden Jahren trotzdem eine deutliche Verschiebung des Fernverkehrs von der Luft auf die Schiene geben könnte, lässt sich daran ablesen, dass sich sogar die Lufthansa seit einiger Zeit für Elon Musks Hyperloop-Technologie interessiert und in einigen Jahren tatsächlich privatisierte Fernstrecken in Deutschland, etwa München-Hamburg oder Berlin-Düsseldorf, unterhalten könnte. Zukunftstechnologien drängen aufs Gleis. Brennstoffzellenzüge sind in Deutschland jetzt schon unterwegs. Autonom fahrende Züge sollen in Frankreich ab 2023 unterwegs sein.

Dr. Eike Wenzel gilt als einer der renommiertesten deutschen Trend- und Zukunftsforscher. Er ist Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung (ITZ) und Leiter des Studiengangs „Trend- und Nachhaltigkeitsmanagement“

Dieser Artikel ist am 4. April 2019 als Kolumne von Eike Wenzel im Handelsblatt erschienen.