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Künstliche Intelligenz: Nicht der erste Technologieschub, der uns automatisierte Wahrheiten verspricht. Ein Zwischenruf

Das Silicon Valley verspricht uns, Künstliche Intelligenz (KI) werde Krankheiten heilen, Verbrechen verhindern, Volkswirtschaften managen, Kriege führen, die Demokratie perfektionieren und uns von der Geisel der Desinformation befreien. Wir alle wissen, dass es zurzeit aber auch kluge Menschen gibt, die bezüglich KI genau das Gegenteil behaupten. 

 

Zu ihnen gehört Roger Berkowitz, Politikprofessor und Gründer des "Hannah Arendt Center for Politics and Humanities" in New York. Berkowitz hat einen hochinteressanten Essay geschrieben, in dem er davor warnt, den Versprechen der Automatisierung von Intelligenz, der „Verwissenschaftlichung“ von Politik und überhaupt der Ausmerzung aller Fehler und Konflikte Glauben zu schenken. 

 

Berkowitz' Begründung dafür: Der Traum von einer reinen, körperlosen, maschinengesteuerten Wahrheit ist nichts Neues. In nahezu jeder Phase zugespitzter technologischer Innovation seit dem 18. Jahrhundert (Babbage´ Differenzmaschine, Fotografie, TV, Mainframerechner, Internet, Suchmaschinen, SocialMedia, Supercomputer etc.) wurde dieses Versprechen gegeben - und immer hat sich der Deus ex machina als Schimäre erwiesen. Das Ergebnis: Statt maschinengesteuerte Wahrheit auszuspucken wurden die Wissensrevolutionen schnell ökonomischen und Machtinteressen angepasst. 

 

KI unterdrückt Pluralität im Dienst von automatisiertem Wissen

 

Aber warum verfallen wir immer diesem Deus ex machina? Hier die spannende These: Berkowitz entdeckt hinter unserer Sehnsucht nach automatisierten Problemlösern einen schwerwiegenden Webfehler unseres westlichen Denkens. Der Glaube an den Hype, das „Next Big Thing“ sei jeweils der jüngste „Ausdruck eines tief verwurzelten Misstrauens gegen menschliche Pluralität“. 

 

Nach wie vor, so Berkowitz, leiten wir die Grundsätze unserer eindimensionalen Objektivitätsgläubigkeit von Platon ab. Wahrheit ist Plato zufolge eine Idee – singulär, universell und mit der richtigen Methode feststellbar. Berkowitz entgegnet dem, dass wir seit mehr als zweitausend Jahren am Fetisch des automatisch generierbaren Wissens festhalten. Von der Philosophie bis zur Religion, von der Wissenschaft bis zum Expertentum und nun von Daten bis zu großen Sprachmodellen habe die westliche Tradition versucht, konkurrierende Ansichten im Namen des Heiligen Grals des objektiv und „unmenschlich wahren Wissens“ zum Schweigen zu bringen.

 

Wissenschaft ist eine Kultur des Zweifelns und Hinterfragens

 

Die verhängnisvollen Konsequenzen dieser Denkweise (SocialMedia verstärken diese Tendenz): Es gibt nur noch Schwarz und Weiß, konkurrierende Ansichten werden unterdrückt, es entsteht die Illusion einer von Menschlichkeit bereinigten Sphäre des Objektiven und Wahrhaftigen. 

 

Mit Wissenschaftlichkeit hat diese Haltung so gut wie gar nichts zu tun. Verantwortungsbewusste Wissenschaft lässt den Zweifel zu und begegnet mit Werkzeugen wie Peer Reviews die Illusion von zeitloser Objektivität, Neutralität und Wahrheit. 

 

Künstliche Intelligenz, schlussfolgert Berkowitz, ist schlicht das neueste Orakel der Wahrheits-Gläubigen. KI kann weder bedauern oder staunen, noch kann sie vergeben. Sie kann nicht lachen. Sie kann nach wie vor nicht denken. Weswegen ist dieser Hinweis für eine aufgeklärte, moderne Gesellschaft so wichtig?

 

Statt maschineller Wahrheit: der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“

 

Für Berkowitz ist Denken kein Streben nach unbestreitbarer Wahrheit, sondern eine Suche nach Sinn (Wie gelingt eine humane Gesellschaft?). Denken ist die Tätigkeit, die uns durch unsere Vorstellungskraft mit anderen ins Gespräch bringt. Wir lassen die Gedanken schweifen und stellen vorhandene Gewissheiten infrage, indem wir uns den Meinungen und Perspektiven anderer aussetzen. Verantwortungsvolle Wissenschaft ist folglich in erster Linie Zweifel und Dialog. Denken erzeugt Sinn, gibt damit zugleich die Illusion objektiven Wissens auf, erlaubt es aber so, eine menschliche Gesellschaft zu organisieren.

 

Im Hintergrund dieser Überlegungen stehen bei Berkowitz Denker:innen wie Jürgen Habermas und Hannah Arendt. Von Habermas stammt das Postulat, dass es immer nur um den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ gehen könne. Hannah Arendt entlehnt er das Bekenntnis zur „Herrschaft der Vielen“, was nichts anderes als ein Plädoyer für Diversität bei der Produktion von relevantem Wissen ist: „Nur wo Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so dass die um sie Versammelten wissen, dass ein Selbes sich in ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten.“ (Hannah Arendt: „Vita activa oder vom tätigen Leben“ (1967), München 2002, S. 72.) 

 

Wissenschaftler forschen nicht, um eine letztgültige Wahrheit zu finden, sondern um unseren Blickwinkel zu erweitern und zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Keine Frage, dringender denn je sind wir auf technologische Exzellenz, auf Gründermut und gesteigerte nachhaltige Produktivität angewiesen. Dabei kann uns die Wahrheitsmaschine der KI wichtige Hilfestellung geben. Aber wir müssen auf Basis unserer Werte definieren, wie KI zum gesellschaftlichen Fortschritt beitragen kann – und wie nicht.