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Die Lebensstil-Matrix des ITZ: Wie wir arbeiten und was uns von den Sinusmilieus unterscheidet

In den vergangenen Wochen wurde ich häufig gefragt, wie wir unsere Lebensstile ausarbeiten. Hier ein paar Einblicke dazu aus dem Vorwort der Studie, die Ende 2025 bei Springer/Nature erscheint.

 

Wie gehen wir vor? In einem ersten Schritt durchmustern wir unterschiedliche Altersgruppen: Welche Eigenschaften lassen sich ihnen ablesen, welche Vorlieben, welche Einstellungen teilen sie? Häufig ist es so, dass Lebensstile ihre transformative Wirkung über Altersgruppen hinweg entfalten, darauf werden wir in der Studie ausführlich hinweisen.

 

Trotzdem ist der Auftakt der Analyse nach einzelnen Alterskohorten unterteilt ein wichtiger Schritt, um einen ersten Zugang zu signifikant vom „Durchschnittsbürger des Jahres 2025“ abweichende Eigenschaften und Werthaltungen zu identifizieren. Anders formuliert: Wir behalten stets den Index der Allgemeinbevölkerung vor Augen – als Kontrastfolie zu der Zahl der Ausprägung von neuen Verhaltensweisen und Lebensstilorientierungen etc. 

 

Mit den elf Lebensstilen liefern wir Ihnen fundierte Einblicke in die Wünsche, Ängste und Sehnsüchte der Menschen – die jedoch gerade im vergangenen Jahrzehnt durch disruptive Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft irritiert und blockiert werden. Wie belastbar sind diese Ergebnisse? So sicher wie Vorhersagen und Typologien sein können. Es ist nicht zu vermeiden, dass künftige Pandemien, Wirtschaftskrise und politische Verwerfungen gesellschaftliches und ökonomisches Handeln verändern und damit auch unsere Vorhersagen in Frage stellen.

 

Ähnlich wie bei der Wettervorhersage gibt es auch für Lebensstile keine hundertprozentige Sicherheit. Mit Bezug auf die Vielfalt an Datenquellen, die wir für die Untersuchung zu Rate gezogen haben, und abgestützt durch unsere vierstufige Trendmatrix, liefert „Lebensstile 2040“ eine faktenbasierte Grundlage für zukunftssicheres Handeln von Entscheidern und Managern in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. 

 

Rahel Jaeggi, Inhaberin einer Professur für Praktische Philosophie, beschreibt Lebensformen als „Ensembles sozialer Praktiken auf die Lösung von Problemen gerichtet“.  Damit lassen sich auch unsere Lebensstile sinnvoll definieren. Wir begreifen Lebensstile als das Ergebnis von sozioökonomischen Trendprozessen (Megatrends, Technologie-, Gesellschafts- und Konsumtrends), die Probleme lösen, die eigene Existenz gestaltbar machen und dem einzelnen die Gelegenheit geben, weitgehend unabhängig von seiner Herkunft autonome Entscheidungen für ein gutes Leben zu treffen. 

 

Der ITZ-Trendmatrix liegt kein Algorithmus zugrunde und auch kein geschlossenes Auswertungssystem, das, nachdem es mit Daten gefüttert wurde, automatisch Ergebnisse ausspuckt. Anhand unserer Netzgrafiken können Sie sich einen schnellen Überblick zum Werteset der jeweiligen Lebensstilgruppe verschaffen. Die quantitativen Prognosen, die wir für jeden einzelnen Lebensstil ausgearbeitet haben, beziehen sich der Übersicht halber ausschließlich auf die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis 2040. Wichtig ist jedoch: Trends und Megatrends, wie wir sie untersuchen, sind immer globale Trends.

 

Die überwiegende Mehrheit der Trends, die wir erarbeiten, lassen sich in weltweiten Maßstab beobachten. Selbstverständlich ist es jedoch so, dass sie für jede Region dieser Welt – und den Erkenntnisinteressen unserer Kunden angepasst – eingeordnet werden müssen. Dafür stehen wir Ihnen als Trendexperten gerne zur Verfügung.  

 

Wir grenzen unsere Analysen von den sogenannten Sinusmilieus ab, weil wir überzeugt sind, dass die Gruppierung und Klassifizierung von Gesellschaften in homogenen Milieus (gleiche soziale Lage, gleiche Grundorientierungen) seit Jahrzehnten an der Realität des 21. Jahrhunderts vorbeigeht. Homogene Sozialstrukturen (im Grunde sind die Sinusmilieus eine Fortführung des alten Schichtenmodells in den Begriffskleidern der 1970er Jahre) existieren in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts schlechterdings nicht mehr. 

 

Die Sinusmilieus selbst entsprangen einem Konzept, das im Zuge der Wahlforschung Ende der 70er entwickelt wurde, und sind nach unserer Einschätzung der sozialen Semantik dieser Zeit verhaftet. Das Modell erweist sich deshalb als ahistorisch und unflexibel, da es im Grunde seit Jahrzehnten die gleichen Ergebnisse liefert – und gesellschaftliche Brüche und disruptive Entwicklungen, wie wir sie aktuell erleben (Rechtspopulismus, regressive Moderne , Anarchokapitalismus ), Stagnation, Rückschritte nicht darstellen kann.

 

Sinusmilieus und die meisten handelsüblichen Zielgruppenanalysen verschließen den Blick vor der Dynamik sozioökonomischer Entwicklungen. Jürgen Habermas bemängelt bei solchen Verstehensansätzen die „Entkopplung einer sozialpsychologisch aufgeblätterten Kultur von jenen sozialstrukturellen Verwerfungen, die letztlich durch funktionale Imperative eines weltweit deregulierten Weltmarktes ausgelöst werden“ . Anders ausgedrückt, Habermas stellt Sozialforschung in Frage, die Sozialtypologien entwirft, ohne hinreichend auf sozio-ökonomische Gegebenheiten hinzuweisen. Mit unserer vierstufigen Trendmatrix, die grundsätzlich immer sozio-ökonomische Veränderungsprozesse untersucht (auch wenn wir Technologietrends untersuchen), schließen wir solche Entkopplungsgefahren aus.  

 

Lebensstile sind zuverlässige Frühwarnsysteme

 

Wie helfen Ihnen Lebensstile bei meinen täglichen Aufgaben, werden Sie sich vielleicht fragen. Mit den elf Lebensstilen präsentieren wir Ihnen Trend- und Zukunftsforschung im besten Sinne: Die vorliegenden Lebensstile zeichnen sich schon jetzt in Wirtschaft und Gesellschaft ab – doch erhalten sie ihre besondere Relevanz für Märkte und Dienstleistungen, für die Daseinsvorsorge von Städten und Regionen insbesondere dadurch, dass sie bis ins Jahr 2040 zu den entscheidenden Modernisierungstreibern in Gesellschaft und Wirtschaft gehören werden. Lebensstiltrends stellen Frühwarnsysteme zur Verfügung, oder positiver: mithilfe der Lebensstiltrends können wir Ihnen Instrumente zur Verfügung stellen, mit denen Sie

Zukunft – in veränderungsbeschleunigten Zeiten - frühzeitig planen können.

 

Welche Funktion haben Lebensstiltrends gerade in der aktuellen Situation? In den kommenden Jahren müssen wir wichtige Entscheidungen treffen, die für die Zukunft der Menschheit über einen langen Zeitraum, möglicherweise Jahrhunderte, erhebliche Auswirkungen haben werden. Im Zentrum stehen der Klimawandel und die Künstliche Intelligenz (KI), aber es geht auch darum, Biodiversität zu bewahren, Pandemien zu vermeiden und Kriege zu verhindern. Nach unserer Einschätzung besteht die größte Gefahr für die Zukunft unserer Gesellschaft darin, dass wir als Gesellschaften und in unseren Lebensstilentwürfen erstarren. Der Rechtspopulismus war in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich darin, unseren Blick eindimensional auf die Gegenwart zu fixieren, auf Materielles, Pekuniäres und das Überleben in der Multikrise. Der junge Oxford-Philosoph William MacAskill spricht deshalb auch von der „Tyrannei der Gegenwart über die Zukunft“ .