Glück als Aggregatzustand des Politischen und warum Bürger:innen die Macht nicht mehr abgeben wollen

Graphik: Die Zeit Gefühlte Unfreiheit, vielleicht der größte Coup der Rechtspopulisten
Graphik: Die Zeit Gefühlte Unfreiheit, vielleicht der größte Coup der Rechtspopulisten

Wie stellen wir es an, dass Demokratie wieder lebendiger wird und Menschen bewegt? Gerade internationale Befragungen unter jungen Menschen schockieren. Demokratie ist unter ihnen sehr wohl ein Thema, sie wird jedoch nicht als unverzichtbare Grundlage für ein gelingendes Leben angesehen. Ist Demokratie optional und verzichtbar geworden?

 

Einige Beobachtungen zur Zukunft der Demokratie in Deutschland und anderswo. 

 

Geplant war es nicht. Aber jetzt geht Baden-Württemberg bei politischen Beteiligungsverfahren voran. Es könnte sein, dass im kommenden Jahr das 8-jährige Abitur fällt. Den Stein ins Rollen brachte ein erfolgreicher „Volksantrag“, mit dem eine Elterninitiative die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium herbeiführen möchte. Dafür hatten die Initiatorinnen und Initiatoren mehr als 100.000 Unterschriften gesammelt und an den Landtag übergeben. Anfangs 64 und am Ende 55 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger hatten seit Ende September in mehreren Sitzungen darüber beraten, wie lange die Schullaufbahn im Gymnasium künftig dauern soll. 89 Prozent stimmten dafür, G9 als Normalform an den allgemeinbildenden Gymnasien einzuführen. 93 Prozent der Bürgerinnen und Bürger forderten für das überarbeitete G9 kreative Unterrichtsformate, 95 Prozent sprachen sich für mehr Praxisbezug aus. Doch die Mühlen mahlen langsam. Im Januar wird sich das Parlament mit den Empfehlungen des Bürgerforums eingehender auseinandersetzen, heißt es.

 

Teilhabe zahlt sich aus... Um große Transformationen gestalten zu können, muss man die Bürger:innen einbeziehen. Dänemark hat das bereits Ende der 1970er Jahre mit der Windenergie demonstriert. Die Menschen müssen beteiligt werden und von Veränderungen einen Nutzen haben. Hierzulande wussten mitunter Bürgermeisterinnen und Bürgermeister bis vor Kurzem nicht, dass ein Windrad in der Stadt installiert wird. Mittlerweile hat es sich jedoch auch in Deutschland eingebürgert, dass Städte, Kommune oder Landkreise 0,2 Cent pro erzeugter Kilowattstunde von den Windradbauern erhalten. Noch besser machte es die kleine Gemeinde Neuerkirch im Hunsrück. Mit den Pachteinnahmen aus der Windkraft wird ein Sport- und Freizeitzentrum finanziert. Außerdem können die Bürger:innen kostenlos E-Autos und E-Bikes aufladen. Die Landes Energie Agentur Hessen hat mit einem Mix aus finanzieller Beteiligung und kluger Vorfeld-Kommunikation für viel Akzeptanz für die Energiewende gesorgt. 

 

Demokratie im 21. Jahrhundert muss erweitert werden

 

Es sind meines Erachtens aber vor allem die nicht so einfach zu greifenden „demokratischen Befindlichkeiten“ unserer Jetztzeit, die es dringend nahelegen, über das gut alte „One man, one vote“ hinauszudenken.

 

Realzeit-Demokratie: Es klingt banal, aber wir leben nicht mehr im 20. Jahrhundert. Die Prozesse der Informationsverarbeitung haben sich in den vergangenen 20 Jahren massiv beschleunigt. Zwischen der Geschwindigkeit der Informationsaufnahme und 4-jährigen Legislaturperioden klafft eine bedenkenswerte Lücke. Wählerinnen und Wähler müssen kurzfristiger in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden. 

 

• Bürger:innen wollen ihre Meinung äußern: Menschen wollen stärker einbezogen werden. Die Social Media haben mit den großen Plattformen ein Monster der Affektpolitik geschaffen. In ihren helleren Momenten ist jedoch auch erkennbar, dass Bürgerinnen und Bürger selbstbewusst das Wort ergreifen und sich stärker zu Wort melden möchten. 

 

• Kein Ende der Repräsentation, aber mehr bürgerliches Empowerment: Offenbar sind Menschen – auch das lässt sich für einen progressiven Diskurs noch retten – nicht mehr bereit, ihre politische Macht abzugeben, beziehungsweise in einem singulären Wahlakt zu delegieren. Darin unterscheiden sich heute (junge) Wählerinnen und Wähler definitiv von ihren Großeltern. Deswegen sollten wir Mittel und Wege suchen, Demokratie auszuweiten. 

 

• Amtszeiten und Transformations-Rhythmen sind selten kongruent: 4-jährige Legislaturperioden sind ein kurzer Zeitraum. Nachhaltige Transformationsvorhaben dauern häufig länger. Wer als Politiker vor allem an seine Wiederwahl denkt, denkt möglicherweise weniger an das, was an wirklich wichtigen Innovationen eingeleitet werden muss.

 

• Unzufriedenheit anders organisieren als die Populisten, heißt: Zuhören(lernen): Wer die AfD wählt, muss wissen, dass er eine rechtsradikale und fremdenfeindliche Partei wählt. Trotzdem sollte es in unserer hochentwickelten Demokratie gelingen, mit Wählern der Populisten und Nicht-Wählern (von denen sich immer mehr radikalisieren) ins Gespräch zu kommen. 

 

Unser ritualisiertes Wählengehen hat dazu geführt, dass Wählerinnen und Wähler sich immer häufiger wie im Supermarkt verhalten. Politik ist zu einem Teil der Konsumsphäre geworden, wenn in der Wahlkabine immer häufiger nur die Amtsinhaber:innen abgestraft werden ("Ich bin doch nicht blöd!"). Ein Grund für die Supermarkt-Attitüde in der Wahlkabine liegt darin, dass die klassischen Wähler:innen-Milieus schon seit den 1990er Jahren zerbröselt sind. Seitdem sprechen wir vom Ende der Volksparteien, Politikverdrossenheit und der Auflösung des Links-Rechts-Gegensatzes. Aus Umfragen geht hervor, dass viele Leute häufig gar nicht mehr wissen, welche Politikerin oder welchen Politiker sie vor vier oder fünf Jahren gewählt haben. 

 

In vier Schritten wird die Zukunft der Region geplant... Teilhabe ist politikwissenschaftlich hinreichend erforscht, wird aber im Alltag als Innovationswerkzeug viel zu wenig genutzt. Dabei ist es gar nicht so kompliziert. Die Region Ostbelgien mit der Hauptstadt Eupen ist neben dem flämischen und den wallonischen Teilen ein eigenständiges Bundesland mit einem Parlament (25 Abgeordnete) und eigenem Ministerpräsidenten. Um Bürger:innen aktiv in die Bearbeitung von Zukunftsthemen einzubeziehen, veranstaltet Ostbelgien (77.000 Menschen) seit Jahren schon einen permanenten Bürger:innen-Dialog. 

 

Bürger:innenrat wie Bürger:innenversammlung werden per Los aus der Bevölkerung rekrutiert. Die Teilnehmer:innen der Bürger:innenversammlung werden vom Bürger:innenrat (die 24 Mitglieder wechseln alle 18 Monate) auf Zukunftsthemen wie digitale Verwaltung, Integration, Pflege und Wohnen angesetzt. Für ihre zukunftswichtige Arbeit erhalten die Teilnehmer:innen pro Tag eine Entschädigung in Höhe von 100 Euro. Wichtiger Teil der Versammlung ist es, für die Ausarbeitung der Empfehlungen Wissenschaftler und Experten anzuhören. Die Ergebnisse, die in monatelanger Arbeit entstehen, sind beachtlich. 

 

Der Rat tagt abends und an Wochenenden so oft, bis die Empfehlungen erarbeitet sind. Anschließend stellt eine Delegation des Rats die Vorschläge dem ostbelgischen Parlament vor, das sich verpflichtet, in seinen Regierungsentscheidungen auf die Vorschläge direkt Bezug zu nehmen. Damit ist der Prozess jedoch noch lange nicht beendet. Im nächsten Schritt wird ein Ausschuss zusammen mit den Politikern gebildet, der Stellung zu den Vorschlägen nimmt und erste Maßnahmen diskutiert. Rund ein Jahr später treffen die Bürger:innen mit den Parlamentarier:innen wieder zusammen, um ein erstes Fazit der gemeinsamen Arbeit zu ziehen. 

 

Teilhabe macht glücklich... David van Reybrouck, Demokratietheoretiker, Schriftsteller und Mitbegründer der Initiative G1000, hat die Idee des permanenten Bürger:innen-Dialogs maßgeblich mitentwickelt. G1000 begleitet seit einigen Jahren Teilhabeprozesse in Belgien, den Niederlanden und Spanien. Van Reybrouck schätzt, dass in Regionen von der Größe Ostbelgiens „früher oder später 60 Prozent der Bürger beteiligt sein werden. Sobald das System läuft, können daraus leicht 80 oder 90 Prozent werden. Und dies bei nur drei Versammlungen im Jahr“. 

 

Um es ganz klar zu sagen: Der permanente Bürger:innen-Dialog soll den Parlamentarismus nicht ersetzen, sondern den Zustand einer „beratenden Demokratie“ herstellen. Der Parlamentspräsident in Ostbelgien erklärt selbstbewusst, dass er seine Region zum Labor für demokratische Innovationen in Europa machen möchte. 

 

Wissenschaftliche Beobachter des permanenten Dialogs sprechen von glücklichen Bürgern, die sie häufig nach drei oder vier Monaten harter Zukunftsarbeit antreffen. Van Reybrouck: „Es gibt (...) aktuelle Untersuchungen darüber, wie sich dieses Engagement auf die Teilnehmer auswirkt. In erster Linie macht die deliberative Demokratie die Bürger glücklich. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehen nach Hause und fühlen sich zufrieden und respektiert – nicht nur an diesem Abend, sondern auch noch nach Wochen, Monaten oder Jahren. Zu dem bestehenden System, wo Frustration oder gar Demütigung vorherrscht, ist dies ein enormer Kontrast. Wir müssen Wege dahin finden, dass die Demokratie nicht so frustrierend ist. Wir müssen sie zu einer angenehmeren und respektvolleren Erfahrung machen.“

 

Politik ist sicherlich nicht die "neue Glücksformel" (womit wir wieder im Supermarkt angekommen wären). Es geht auch eine Nummer kleiner. So ist van Reybrouck in vielen Beratungen aufgefallen, dass das Empowerment der Teilnehmer:innen neben Bürgersinn auch Selbstbewusstsein und nachhaltige Expertise schafft: „Die fundierte Meinung eines Teils der Bevölkerung ist oft besser als die nicht fundierte oder zumindest viel schlechter informierte Meinung der Gesamtbevölkerung.“ Frankreichs Staatspräsident Emanuel Macron hat 2018 – zumindest halbherzig – die Idee der Bürgerräte aufgegriffen, um den Konflikt mit den Gelbwesten zu moderieren. Der permanente Bürger:innen-Dialog könnte sich so gesehen auch als hervorragende Medizin gegen den Populismus erweisen, da sich Wähler:innen beachtet, mit ihren Problemen verstanden und ernstgenommen fühlen.