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In Polen boomt die Wirtschaft, doch die Demütigungen nach 1989 scheinen immer noch nicht überwunden

Anne Applebaum hat einen großartigen Essay geschrieben, in dem sie ihre eigenen Erfahrungen mit Polen nach dem Ende des Eisernen Vorhangs 1989 einbringt. Ihre Nähe zu Akteuren, die jetzt bzw. in den vergangenen rund zehn Jahren Polens Weg in Populismus und illiberale Demokratie geprägt haben, macht Applelbaums Beobachtung so überzeugend.

 Die wichtigsten Thesen:

  • Demokratie verzichtbar? Für den Westen nur schwer vorstellbar: Das feste Band zwischen westlicher Demokratie und sozialer Marktwirtschaft war offenbar nur für den Westen eine Selbstverständlichkeit.
  • Westliche Demokratie wurde nie geliebt: Begegnungen Applebaums mit Weggenossen in Polen und Ungarn, die sich auf die Seite der Populisten geschlagen haben, legen nahe: Es gab unter osteuropäischen Intellektuellen (zumindest denjenigen, die Applebaum erwähnt) wohl nie ein Bekenntnis zu Demokratie und Liberalismus.
  • Mauerfall als Demütigung: Auch Akteure der revolutionären Solidarnosc schwenkten bereits in den 00er Jahren erkennbar ins antiwestliche Lager um. Der Grund dafür: die Nase voll gegenüber westlicher Bevormundung und Kolonisierung der eigenen nationalstaatlichen Identität. Und: Resentiment, Neid, Wut und Gier, Teile einer Gegenelite zu sein, führten viele einstmals gemäßigt konservative Akteure in die Ämter der polnischen PiS-Partei. Unter anderem Jacek Kurski, der das öffentlich-rechtliche polnische Fernsehen zu einem Propagandainstrument machte.
  • Verschwörungstheorien als erlogene Nationalmythen: Sowohl Ungarn als auch Polen haben sich eine nationale Verschwörungstheorie, wenn man so will: einen auf einer Lüge basierenden Gründungsmythos, gegeben, der es erlaubt, die Realität (wie Trump Fake News Media oder der Zweifel an Obamas Herkunft) nach eigenem Gusto umzuschreiben. In Polen war das der Flugzeugabsturz des Präsidenten Lech Kaczynski, der angeblich Opfer eines (russischen) Terroraktes oder innenpolitischer Feinde gewesen sein soll. Eine Kommission stellte heraus, dass das definitiv nicht der Fall ist. Und auch wenn in aufgeklärten Schichten in Polen längst nicht mehr an die Verschwörungstheorie geglaubt wird, wird sie in den Propagandamedien verbreitet. O-Ton des Chefs des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Kurski: Auch wenn die Theorien nicht haltbar sind, die dummen Bauern glauben sie, wenn wir sie bringen.
  • Angst vor nichtvorhandenen Immigranten: Ungarns verschwörungstheoretische Lüge kreist um George Soros und seine Hochschule, außerdem schürt die Orban-Partei immer wieder Angst vor syrischen Immigranten, die es in Ungarn aber praktisch überhaupt nicht gibt. Auch in Ungarn wird über diese Verschwörungstheorien Nepotismus und Kontrolle von Justiz und Medien begründet.
  • Ein Ereignis genügt: Was diese Verschwörungstheorien vor allem leisten, ist eine Spaltung der Bevölkerung. Das Beängstigende dabei: es genügt mitunter die verlogene Deutung eines einzigen Ereignisses (dabei kommt einem der Maaßen-Fall in den Sinn), um die Bevölkerung zu spalten.
  • Gehorsam ersetzt Vernunft: Was dann passiert, ist ähnlich der Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich: der erfundene Mythos delegitimiert Presse, Öffentlichkeit und mithin auch Justiz. Wahrheit, Gesetz und Vernunft bleiben auf der Strecke. Die neuen Eliten etablieren ein manipulativen System der Claqueure und braven Anhänger. Demokratie wird durch Vetternwirtschaft ersetzt; Gehorsam und Loyalität (und nicht mehr Wettstreit um das bessere Argument) beginnen alle Teile der Gesellschaft zu zersetzen. Nationalismus, Abgrenzung nach außen sind die nächsten logischen Schritte.
  • Entdemokratisierung im Wirtschaftsaufschwung: 1989 war alles andere als das „Ende der Geschichte“. In Osteuropa (und nicht nur in Russland) war der Fall des Eisernen Vorhangs keine Befreiungsgeschichte, sondern wurde als Demütigung und westliche Kolonisierung erlebt. Die Wut und Unzufriedenheit, das zeigt sich in Applebaums Essay sehr gut, kommt vor allem aus dem Gefühl der Entmündigung. Ökonomische Nöte können es nicht sein: Polen floriert wie kaum ein anderes Land in der EU, natürlich auch mithilfe der EU-Transfers.
  • Stammeskulturen, Gehorsam und Dummheit ersetzen Öffentlichkeit, Wettbewerb und Vernunft: Trotz offensichtlicher Modernisierungserfolge in Osteuropa findet Fortschritt nach westlich-aufgeklärten Prinzipien offenbar nicht statt. Stattdessen bewegen wir uns gerade im Modus einer zyklischen Wiederkehr. Neoautoritäre Staaten definieren die Realität um, erzeugen Sündenböcke und belohnen unreflektierte Loyalität. Als diffus-dumpfer Sehnsuchtshorizont dient dabei immer wieder die nationale Identität und die gefährliche Phantasie einer homogenen, scheinbar gerechteren Gesellschaft, die aber nichts anders darstellt als eine menschenverachtende Diktatur.