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Kolumne_4: Die Food-Idealisten und 6 Trends für das Essen der Zukunft

April 23, 2017
by Eike Wenzel
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Selten war Essen politischer als heute. Mit den so genannten „Foodies“, vor allem junge Menschen, die ihren Lebensstil und ihre Werte vornehmlich darüber definieren, was, wie und wo sie essen, könnte eine neue Politisierung der Öffentlichkeit eintreten. Aber ist das wirklich so? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Fokussierung auf Herkunft, Qualität und Praktiken des Essens, „unser täglich Brot“ brachial mit (Ersatz-)Sinn und gut verdaulichen Emotionen auflädt – und damit zur weiteren Entpolitisierung unserer Gesellschaft in Zeiten von Fake News und Facebook beiträgt?

Essen ist Pop, das scheint unbestreitbar. Street Food ist eine weltweite Bewegung, die von Berlin ihren Ausgang nahm. Was im Zentrum stand, war die Sehnsucht nach Transparenz und bessere Qualität. Die Botschaft der Szene sollte ernst genommen werden. Sie lautet: „Gebt uns das zurück“, gebt uns die Kontrolle über das Essen zurück – wir möchten uns von der Fremdsteuerung unserer Ernährung durch Massenproduktion und gesundheitsschädliche Ernährung befreien.

Aber ist das tatsächlich auch ein politischer Aufbruch? Ist das „richtige“ Essen der neue Pop, der unser Bewusstsein verändert? Popmusik von Dylan bis HippHopp artikulierte eine Haltung zur Welt. Amerikas wirtschaftswissenschaftlicher Starautor Tyler hat das kürzlich in seiner Bloomberg-Kolumne beschrieben. Pop (also ihr rebellischer Beginn in den 60ern) formte gesellschaftliche Debatten, ihre Protagonisten und Inhalte hatten intellektuelle Reichweite. Die mittlerweile armeegroße Truppe der Fernsehköche agiert dagegen weitestgehend selbstreferentiell und redet immer wieder nur über Essen und Kochen. Essen ist zwar so ziemlich das Sozialste, was wir als Menschen tun können – im Gegensatz zur Popmusik hat es jedoch nur bedingt zur Bildung von Identitäten und politischen Bewegungen beigetragen. Popmusik stellte soziale Verbindungen her und sorgte für gesellschaftlichen Wandel. Kochen macht müde und satt.

Essen ist das Opium der gebildeten Mittelschichten
Eine jeunesse dorée, kulinarisch entrückt zwischen Organic-Gin aus Weimar, Stracker Wurst aus Kassel, Veganismus und den ersten eigenen Schlachterfahrung im „Wurschtekurs“. Wieviel Subversion geht von den Essensaktivisten aus, wenn Widerstand immer „nur“ heißt, sich stilsicher gegen schlechte Tierhaltungsmethoden zu empören und beim Metzger des Vertrauens einzukaufen. Wenn der Kampf an der regional entschleunigten Genießer-Front immer nur für das nächste Terroir-Erlebnis und die Balance der eigenen Darmflora gekämpft wird? Essen ist das Opium für die intellektuellen Mittelschichten, schreibt Cowen. Mehr noch: Essen ist im Grunde wie das Wetter, ein Gesprächsthema mit maximal geringem Konfliktpotenzial.

Dabei möchte ich Erfolge gar nicht in Frage stellen. Hat nicht Jami Oliver mit seiner Kritik an schlechten Schulkantinen und der Verfettung der Bevölkerung viel erreicht? Ist Streetfood nicht sogar eine Revolution, die Industrie und Gastronomie neu definiert? Ja, es gibt so etwas wie ein globales Food-Movement, asymmetrisch (ohne klar Hierarchien und Programme) organisiert vor allem über das Internet, das in den vergangenen zehn Jahren gehörigen Druck auf Coca Cola, McDonalds, Nestlé und die Discounter ausgeübt hat. Vegetarische Aktivisten, Slow-Food-Idealisten und handwerkliche Traditionsbewahrer haben im Schulterschluss mit NGOs dafür gesorgt, dass wir sehr viel mehr über Essen und seine wirtschaftlichen und ökologischen Konsequenzen wissen.

Bewusstsein ist geschaffen worden. Aber was für ein Bewusstsein ist das? Reicht es, wenn das neokulinarische Bewusstsein darüber Auskunft geben kann, was am Hallischen Fleckvieh besonders authentisch ist? Oder ist das nicht einfach nur kulturell nobilitierter Konsumismus? Denn bei allem schläfrigen Sattsein stehen wirklich große Fragen an. Gelingt es uns demnächst vielleicht doch, Alternativen zum Fleischkonsum zu entwickeln, die nicht nur traurige Schwundstufen der alten Herzhaftkultur darstellen. Ich denke an die interessanten Ansätze, die Unternehmen wie BeyondMeat (Fleisch aus Pflanzenfasern) und Hampton Creek (Mayonnaise, von Unilever verklagt, weil beeindruckende Qualität ohne Eieinsatz) entwickelt haben.

USA: Restaurants überholen den Handel
In den USA gibt es neben vielen Food Aktivisten zurzeit einen Restaurant-Boom. Essengehen nach der Rezession wird (wieder) zum Erlebnis, während die Shopping Malls immer mehr veröden. Ende der 2000er-Jahre haben in den Vereinigten Staaten die Ausgaben für Restaurants die Ausgaben für den Einzelhandel überholt. Seit dem vergangenen Jahr lassen Amerikaner mehr Geld in Bars und Restaurants als in Lebensmittelgeschäften. US-Kids geben mehr Geld für Essen und Restaurants aus als für Klamotten. Revoltiert hier der Bauch gegen die Oberflächlichkeit der Fashion-Kultur? Oder ist die amerikanische Renaissance der Restaurants schlicht der Tatsache geschuldet, dass es in den Coffee Shops und Burgerbratereien WLAN gibt. Zeitgeistbeobachter aus dem linksliberalen US-Milieu wie Derek Thompson haben sich zu der These verstiegen, Restaurantbesuche könne man halt wirkungsvoller auf Instagramm und Snapchat posten als anstrengende Kleiderkäufe.

Food überholt Retail

Italien: der Rückzug aufs Land
In Italien beobachten wir eine erstaunliche Rückkehr aufs Land. Laut italienischen Marktforschern ist die Zahl der Menschen unter 35 Jahren, die in der Landwirtschaft arbeiten, zwischen 2015 und 2016 um sage und schreibe 9,1 Prozent angewachsen. Der „Economist“ hat sich in einer wunderbaren Reportage auf ihre Spuren gemacht. Aus Mailänder Juristen werden gechillte Safranzüchter, Milchkühe in Hightech-Ställen liefern die Milch für exquisiten Käse. Die Stadtflucht ins Ostpiemont als Politisierung des Essens oder Rückzug vor der Wirklichkeit? Die spürbare Passion für eine unentfremdete Ernährungskultur, die es so wahrscheinlich überhaupt noch nie gab, wärmt einem das Herz. Die Perspektive für solche Kleinkooperationen sind jedoch bescheiden. Denn es ist ein zäher, wenn auch bewundernswerter und manchmal trauriger Kampf am Existenzminimum und fast einhellig die Sehnsucht, dem Neoliberalismus entkommen zu sein.

Dass der Rückzug in die Provinz, in die Natur und hin zum Landleben teilweise zumindest ein Ausweichen ist, lässt sich schnell aus den Geschichten heraushören. Einer der Stadtflüchtigen bringt es auf den Punkt: „Am Anfang redeten wir darüber, wie wir die Welt verändern können. Inzwischen haben wir gelernt, dass die Welt dort ist, wo du dein Leben lebst. Wir versuchen jetzt einfach den Garten vor unserer Haustür zu verändern.“ Ich will die Neobauern im Piemont gar nicht denunzieren. Aber ein bisschen von Wegducken steckt auch in ihren schönen Reformprojekten. Und sie unterscheiden sich darin nicht wesentlich von der Kleinkneipen-Melancholie in Friedrichshain.

Big Food ist tot – 6 Trends für die Zukunft des Essens
Big Food, wie wir es seit mehr als 50 Jahren kennen, ist tot. Das hat selbst ein zynischer Superkonzern wie Nestlé mittlerweile verstanden. Allerdings war die Erkenntnis schwer zu schlucken, denn selbst in den USA bleiben schlicht die Kunden einfach – die Menschen wollen andere Produkte, wollen anders essen. In den USA standen 2014: Verluste von vier Milliarden US-Dollar bei Packaged-Food in den Büchern, die an die Segmente „frisch und bio“ gingen. Und alle wissen, dass wir zukünftig win-win-win-Situationen brauchen. Was wir in der Lebensmittel- und Landwirtschaftsindustrie in den nächsten zehn Jahren machen werden (spätestens dann brauchen wir erste disruptive Lösungen) muss gut sein für die Konsumenten, für die Industrien und für die Umwelt.

• Investoren: Das Silicon Valley und weltweit viele andere Technologiedienstleister sind etwa seit 2013 in das Rennen um das Essen der Zukunft eingestiegen. 2013 war das Jahr, in dem auch das Silicon Valley dem asymmetrischen Food Movement beisprang. Laut „New York Times“ steckten schon 2012 amerikanische Investoren 350 Millionen US-Dollar in Food-Startups.

• Disruptive Technologien: Ihren Mut und Geschäftssinn brauchen wird (und den Forschergeist der Universitäten), denn vielversprechende Ansätze wie das Vertical Farming (Plantagon.com in Schweden, Farmiculture.com in den USA), die Produktion von nachhaltigem Fleischersatz (BeyondMeat, LikeMeat…), Forschung an Algen (als Essen, als Dünger und als Bodenrekreationsprogramm) und Insekten (Unternehmen wie Chirp und  Chapul stellen biologische Grillen für Proteinriegel her) geht zumindest noch bis 2025 mit hohen Upfront-Kosten einher und stellen mitunter wirklich hohe Wagnisse dar, ohne die wir jedoch keine zukunftsfähigen Lösungen finden werden. Deshalb wird es höchste Zeit, dass die Nahrungsmittelgiganten wie Nestlé, Procter & Gamble, Cargill, Unilever usw. auf diese Trends einsteigen.

• Mentalitätswandel: Und es braucht den berühmten Mentalitätswandel. Wir müssen lernen und schmecken, das Proteine von Insekten nahrhaft und lecker sein können. Wir können uns mittlerweile auf Fleisch freuen, dass lecker aus Pflanzenfasern hergestellt wird. Um mit einem Mentalitätswandel zu beginnen, gibt es in unserer Kultur eine erste Lösung: gutes Marketing. Zweifellos wird es in den nächsten Jahren auch auf die verbesserte Kommunikation dieser Themen ankommen.

• Transformation statt Trost: Wenn es stimmt, dass die Mikrobrauerei-Melancholie und Streetfood-Credibility der neue Pop sind, dann möchte man ihre hippen Akteure dazu verpflichten, sich am gesellschaftlichen Anspruch des 60er-Jahre-Pops zu messen. Der hatte eine transformative Botschaft und nicht nur gemeinschaftsbildende Trostfunktion. Die Straßen der großen Städte als das Pflaster für Gegenbewegungen zur Industrialisierung des Essens, war ein guter Anfang.

• Denkblockaden: Disruption des Essens heißt, wir müssen den Relevanzrahmen neu setzen. Dazu gehört auch, dass wir Gegensätze wie regional versus industriell auflösen. Wir müssen Bewusstsein dafür schaffen, dass regional von Industrie und Technologie profitieren kann. Dafür brauchen wir eine neue Kommunikation, eine Food-Diplomatie, die alte Grenzen des Nichtverstehens überwindet.

• Win-win-win: Wir brauchen die Wiederentdeckung des Landes und der regionalen Wertschöpfungsformen ebenso wie die feine Nase der Silicon-Valley-Investoren. Und wo schon die Rede von Bewusstseinsbildung war: Wir brauchen den Bewusstseinswandel nicht nur in unseren Köpfen, sondern in den Hirnen der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie. Wir brauchen die win-win-win-Situation: Gut für die Hersteller, gut für die Konsumenten, gut für die Umwelt.

Eike Wenzel gilt als einer der renommiertesten deutschen Trend- und Zukunftsforscher und hat sich als erster deutscher Wissenschaftler mit den LOHAS (Lifestyles of Health and Sustainability) beschäftigt. An dieser Stelle beschreibt er, wie eine Effizienzrevolution gelingen kann, die keine Mäßigung predigt und Überfluss erlaubt. Eike Wenzel ist Gründer und Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung. Er gibt den Newsletter Megatrends! heraus und ist Mitglied des Nachhaltigkeitsrats der Landesregierung Baden-Württembergs.

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